Eine Seeschlange der Spezies Aipysurus laevis holt Luft – oft muss sie das nicht tun.
Foto: Bruno Simoes, University of Plymouth

Irgendwann vor 400 bis 350 Millionen Jahren kolonisierten Knochenfische das Land. Der Abschied vom Meer war aber nicht für immer – unzählige Gruppen ihrer Nachfahren, der Landwirbeltiere, kehrten danach wieder zu einem Leben im Wasser zurück.

Reptilien erwiesen sich dabei als besonders wechselfreudig: Die älteste bekannte Gruppe von Meeresreptilien waren die etwa einen Meter langen Mesosaurier, die schon vor knapp 300 Millionen Jahren wieder im Wasser lebten. Die jüngste dürften die berühmten Meerechsen der Galapagosinseln sein, die zu den Leguanen gehören. Laut Erbgutanalysen dürften sie sich erst vor etwa 4,5 Millionen Jahren von ihren landlebenden Cousins getrennt haben. Ihre Anpassung ans Meer ist insgesamt auch noch eher bescheiden.

Ein neues Erfolgsmodell

Ebenfalls eine noch recht junge Gruppe sind die Seeschlangen (Hydrophiinae). Die zumeist etwas mehr als einen Meter langen Tiere gehören zur selben Schlangenfamilie wie Kobras und Mambas und sind auch entsprechend giftig. Zum Glück für Tauchtouristen produzieren sie aber nur geringe Mengen ihres hochwirksamen Gifts und beißen auch nicht so schnell zu wie einige ihrer gefürchteten Verwandten an Land.

Seeschlangen leben in den tropischen und subtropischen Regionen des Pazifiks und des Indischen Ozeans. Auf der Jagd nach Fischen können sie 80 Meter oder mehr bis zum Meeresboden abtauchen und dort ein paar Stunden verbringen, ehe sie zum nächsten Atemzug auftauchen müssen.

Und hier sehen wir die Schlange vom Titelbild des Artikels in Bewegung.
SciTech Daily

2018 veröffentlichten Forscher des Florida Museum of Natural History eine Studie, der zufolge sich die heutigen Seeschlangen ursprünglich in Südostasien entwickelt haben. Schwankungen des Meeresspiegels und Überflutungen hätten dort Brackwasserhabitate geschaffen, die den Übergang vom Leben an Land zu dem im Meer erleichterten – ähnliche Voraussetzungen wie vor über 300 Millionen Jahren, nur lösten sie diesmal eine Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung aus.

Auch in diesem Fall führte der Wechsel in einen neuen Lebensraum dazu, dass sich das Tempo der Evolution erhöhte. Unter den diversen Anpassungen, die die Seeschlangen binnen relativ kurzer Zeit entwickelten, konzentrierte sich ein Forscherteam aus fünf Ländern nun auf den Gesichtssinn. Das Team um Bruno Simões von der Universität Plymouth fand eine Parallele zu den Säugetieren – überraschenderweise aber nicht zu Meeressäugern, sondern zu Primaten.

Farben sehen können (aber nicht müssen)

Säugetiere sind, mit Ausnahme der Primaten, generell nicht besonders gut im Farbensehen. Bei den heute verbreitetsten Meeressäugern, den Walen und Robben, hat sich die Farbsicht sogar noch weiter reduziert. Die Seeschlangen gingen offenbar einen anderen Weg: Sie passten ihre Augen an. Das haben Schlangen im Grunde schon immer getan, in unterschiedliche Richtung und abhängig stets von ihrer Lebensweise. So haben Arten, die dämmerungsaktiv sind oder vorwiegend unterirdisch leben, die grundsätzlich sehr gute Farberkennung von Echsen reduziert oder sogar ganz aufgegeben.

Gejagt wird zumeist in Nähe des Meeresbodens.
Foto: Bruno Simoes, University of Plymouth

Simões und seine Kollegen analysierten Linsen, Photorezeptoren und das für das Sehpigment Opsin zuständige Gen von Seeschlangen und konnten feststellen, dass es hier in den vergangenen 15 Millionen Jahren zu einer starken Diversifizierung gekommen ist. Bei einem Teil der Seeschlangen führte das sogar zu einer erhöhten Empfänglichkeit für UV-Licht – durchaus praktisch, wenn man im Zuge des Jagens und Luftholens zwischen Wasserschichten mit stark unterschiedlichen Lichtverhältnissen wechselt.

Simões vermutet, dass für diese Verbesserung der gleiche Prozess verantwortlich sein dürfte, der auch den Primaten ihre säugetieruntypisch gute Farbsicht ermöglicht hat: Genduplikation, eine sehr häufige Form von Genmutation, führt zur dauerhaften Verdoppelung einzelner Gene. Sind die beiden Kopien nicht vollkommen identisch, sondern leicht variiert (sogenannte Allele) kann das Ergebnis mit Glück eine günstige Wirkung haben. Betrifft diese Variation etwa die Sehpigmente der Zapfen, also der für die Farberkennung zuständigen Photorezeptoren im Auge, dann kann es dazu führen, dass ein stärker differenziertes Spektrum wahrgenommen wird.

Ein weißer Fleck auf der Seeschlangen-Karte

Das hohe Tempo der Seeschlangen-Evolution hat dazu geführt, dass sich die Tiere in eine ganze Reihe von Arten (aktuell sind knapp 60 bekannt) aufgespalten und weite Teile der Weltmeere besiedelt haben. Nur den Atlantik konnten sie nicht bevölkern. In der Studie von 2018 postulierten die Forscher aus Florida, dass die Seeschlangen ein entscheidendes Bisschen zu spät kamen: Als sie den Ostpazifik erreicht hatten, hatten sich Nord- und Südamerika bereits verbunden. Passagen gab es damit nur noch im hohen Norden und tiefen Süden, wo das Meer für die Tiere zu kalt ist.

Der Mensch ist aber gerade drauf und dran, diesen einen Makel in der Erfolgsgeschichte der Seeschlangen auszubessern: Mitunter wagen sich Seeschlangen recht weit einen Fluss hinauf – da macht ihnen der Panamakanal erst recht keine Probleme. Vereinzelt wurden bereits Seeschlangen im Kanal gesichtet. Da ist die Karibik nicht mehr weit, und hinter der würde ein ganzer Ozean auf die umtriebigen Tiere warten. (jdo, 1. 6. 2020)