Manifester Auftrag für Kunstschaffende: Sie "haben nicht nur das Recht zu widersprechen, sondern die Pflicht dazu".

Foto: Carlos Spottorno

Kunst ist kein Luxus. Kunst ist ein gesellschaftliches Grundbedürfnis, auf das alle ein Recht haben.

Kunst ist eine Art, Gedanken zu bauen, sich selbst besser kennenzulernen und gleichzeitig auch die anderen. Sie ist eine sich ständig wandelnde Methodik für die Suche nach einem Hier und Jetzt.

Kunst ist eine Aufforderung zu hinterfragen; sie ist in einer Gesellschaft der Ort für Zweifel, für das Bedürfnis zu verstehen und das Bedürfnis, die Realität zu ändern.

Kunst ist nicht nur eine Äußerung der Gegenwart, sie ist auch Aufruf zu einer anderen, besseren Zukunft. Daher gibt es nicht nur ein Recht, Kunst zu genießen, sondern auch jenes, sie ausüben zu können.

Kunst ist ein Gemeingut, das zum Zeitpunkt, wenn man es findet, nicht vollständig verstanden werden muss. Kunst ist ein Raum der Verletzbarkeit, in dem Gesellschaftliches dekon-struiert wird, um das Menschliche zu errichten.

Künstler*innen haben nicht nur das Recht zu widersprechen, sondern die Pflicht dazu.

Künstler*innen haben nicht nur unter affektiven, moralischen, philosophischen und kulturellen Aspekten das Recht zu widersprechen, sondern auch unter wirtschaftlichen und politischen.

Künstler*innen haben das Recht, mit der Führungsmacht, mit dem Status quo nicht einverstanden zu sein.

Künstler*innen haben das Recht, im Widerspruch respektiert und geschützt zu werden.

Regierungen von Ländern, in denen Künstler*innen arbeiten, haben die Pflicht, deren Recht auf Widerspruch zu schützen, weil darin deren gesellschaftliche Funktion liegt: kontroversielle Dinge zu hinterfragen und anzusprechen. […]

Künstler*innen schlagen eine Metarealität vor: eine potenzielle Zukunft, die in der Gegenwart erlebt werden kann. Sie schlagen vor, etwas zu erleben, das noch nicht da ist, eine Situation von "was wäre, wenn". Daher können sie nicht von Orten in der Vergangenheit beurteilt werden, mit Gesetzen, die das Etablierte bewahren wollen.

Regierungen müssen aufhören, Ideen zu fürchten. […]

In sehr sensiblen Zeiten (Kriege, Wandel der Legislative, politische Übergangszeiten) ist es die Pflicht der Regierung, systemkritische, hinterfragende Stimmen zu schützen und sicherzustellen, denn es sind Zeiten, in denen man Rationalität und kritisches Denken nicht abschaffen darf, manchmal können aufkeimende Ideen nur durch die Kunst an die Öffentlichkeit gelangen. Ohne Gegenstimmen gibt es keine Möglichkeit voranzukommen. […]

Künstlerischer Ausdruck ist ein Raum für Zweifel an Bedeutungen und dafür, sich über das Denkbare hinwegzusetzen. Das ist es, was nach Ablauf einer gewissen Zeit als Kultur anerkannt wird. (Tania Bruguera, 16. 5. 2020)