Nach dem Tod seines Vaters liest Boris Nikitin in seinem Stück "Versuch über das Sterben" live auf der Bühne. Die Vorstellungen bei den Wiener Festwochen konnten nicht stattfinden.

Foto: Donata Ettlin

Als Begründung für den Lockdown stand in den letzten Wochen oftmals der Schutz der "verwundbarsten Mitglieder" unserer Gesellschaft an vorderster Stelle: älterer und kranker Menschen, die dem Virus am meisten und, so die Argumentation, schutzlos ausgeliefert sind.

Mir ist aufgefallen, dass gerade die Stimmen dieser Menschen in den öffentlichen Auseinandersetzungen mit der Pandemie kaum eine Plattform erhalten. Sie kommen lediglich im privaten Rahmen vor. So meinte meine Mutter beispielsweise unlängst, dass sie sich von der Politik plötzlich als "alt gemacht" empfinde, und entdeckte den Begriff der "Altersdiskriminierung".

Die Entwertung der Alten

Die 90-jährige Großmutter eines Freundes wiederum sorgt sich seit Wochen darum, dass sie im Falle einer Erkrankung nicht mehr als relevant eingestuft würde. Mein chronisch schwer erkrankter Vermieter verschanzt sich seit Wochen notgedrungener maßen in seiner Wohnung, der Kontakt mit dem Virus wäre für ihn vermutlich tödlich. Doch auch seine Stimme kommt im öffentlichen Diskurs zu Covid-19 nicht vor.

Über die "verwundbarsten Mitglieder" wird viel gesprochen, selbst zu Wort kommen sie kaum. Verwundbarkeit wird so durch die mediale Öffentlichkeit zu einem fast schon kindlichen Zustand reiner Schutzbedürftigkeit reduziert, zu der das Attribut der Mündigkeit, also der Fähigkeit, sich äußern und eigene Entscheidungen treffen zu können, nicht passen will. Warum ist das so?

In unserer wettbewerbsgeprägten Gesellschaft haben wir gelernt, unsere Verwundbarkeit eher als Mangel und Nachteil zu begreifen, die es anderen gegenüber zu verbergen gilt. Das Gefühl der eigenen Verwundbarkeit koppelt sich dabei an das, was wir fürchten und wovor wir uns zu schützen versuchen. Die Verwundbarkeit wird so selbst zu einem Gegenstand der Angst: der Angst vor den anderen, vor der Realität, der Angst vor "dem, was kommt". Das Resultat ist eine gefühlte Ohnmacht. Wo die Menschen sich ängstigen, ziehen sie ihre Körper zurück und hinterlassen ein Schweigen. Verwundbarkeit als Form des Souveränitätsverlusts.

Vulnerabilität

In der gegenwärtigen Situation ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass Verwundbarkeit nicht nur ein Mangel, sondern ganz im Gegenteil auch als eine wichtige, wenn nicht sogar die zentrale Fähigkeit verstanden werden kann, die den Menschen als politisches Wesen und damit als Menschen ausmacht. Merkmal dieser "vulner-ability" ist die Fähigkeit, sich öffentlich zu äußern, sich vor anderen körperlich oder verbal zu exponieren, sich sichtbar und angreifbar zu machen, sich zu outen, soziale und letztlich politische Teilhabe auszuüben und dabei die eigene alltägliche Angst, und sei es auch nur ein bisschen, zu überwinden. Dieses Teilen von individueller und gemeinsamer Verwundbarkeit ist die Grundlage der Solidarität, die in den letzten Wochen von so vielen gefordert wurde. Nur wenn die einen von sich erzählen, können andere sagen: So geht es mir auch.

Es wird in den nächsten Wochen, in welchen der Shutdown nun mehr und mehr gelockert werden soll, ganz wesentlich sein, dass die Menschen, die von der Pandemie körperlich nach wie vor am meisten betroffen sind und sein werden, zu einer Stimme finden und ihnen hierfür auch die dafür gebotene Öffentlichkeit zuteil wird. (Boris Nikitin, 3.6.2020)