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Ein griechischer Künstler fertigt eine Büste von Homer an. Das Antlitz wirkt vertraut – beruht aber letztlich auf Überlieferungen, deren Realitätsbezug ungewiss ist.
Foto: AP Photo/Petros Giannakouris

Wien – Dafür, dass Homer der wohl meiststudierte Dichter der gesamten Kulturgeschichte ist, kann man auf erstaunlich wenige eindeutig belegbare Fakten über sein Leben zurückgreifen. Letztlich ist nicht einmal vollkommen sicher, ob es Homer überhaupt gegeben hat – respektive ob die großen abendländischen Epen "Ilias" und "Odyssee" tatsächlich auf einen einzigen Urheber zurückzuführen sind.

Als "Zeit des Homer" gilt jedenfalls der Zeitraum von der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung. Das könnte sich aber noch einmal um ein Stück verschieben, wenn es nach einer aktuellen Studie geht, die Archäologen der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Fachmagazin "Plos One" veröffentlichten. Basierend auf neuen Messungen mit der Radiokarbonmethode würden sich einige frühe Phasen der griechischen Antike um 50 bis 150 Jahre in die Vergangenheit verschieben.

Hintergrund

In der vor rund 3.000 Jahren beginnenden Früheisenzeit nahm die Entwicklung des antiken Griechenland Fahrt auf: In diese Epoche fallen unter anderem die Gründungen der einflussreichen Kolonien im Mittelmeerraum, die Etablierung der Stadtstaaten, die Erfindung des griechischen Alphabets und weitere wichtige soziale und kulturelle Innovationen, die Europa lange prägen sollten. Und nicht zuletzt sollen auch "Ilias" und "Odyssee" in dieser Ära aufgezeichnet worden sein.

Diese entscheidende Epoche wurde bereits vor rund 100 Jahren zeitlich eingeordnet. Seitdem sei dieses Periodisierungssystem aber nicht systematisch mit neuen wissenschaftlichen Methoden überprüft worden, sagt Stefanos Gimatzidis vom Österreichischen Archäologischen Institut (ÖAI) der ÖAW. Der Forscher hat sich in Kooperation mit Bernhard Weninger vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Köln daran gemacht, die bisherige Zeitrechnung auch mit naturwissenschaftlichen Daten aus der Radiokarbondatierung (C14-Methode) zu überprüfen.

An Objekten wie dieser Keramikkiste aus dem Raum Athen wird die Datierung der frühen Phasen der griechischen Geschichte festgemacht.
Foto: Stefanos Gimatzidis/ÖAW

Die bisherige historische Datierung beruht auf Scherben griechischer Keramikgefäße, die in Fundstätten wie Tell Abu Hawam, Megiddo und Samaria im heutigen Israel freigelegt wurden. Diese befanden sich in sogenannten Zerstörungsschichten, die Hinweise auf kriegerische Auseinandersetzungen enthielten und anhand schriftlicher Quellen angeblich mit Präzision datiert werden konnten.

So wurde beispielsweise der Übergang von der protogeometrischen zu geometrischen Periode, die anhand von Keramikfunden definiert wurden, um 900 vor unserer Zeitrechnung angesetzt. Darauf basierend wurde dann die gesamte griechische Keramikabfolge der Früheisenzeit zeitlich aufeinander aufgebaut. "Für 100 Jahre war man dann mit der griechischen Chronologie zufrieden, und sie bildete auch die Grundlage für die Chronologie des gesamten Mittelmeeres", so Gimatzidis. Das Vertrauen in diese Datierung sei groß gewesen, zudem gebe es einen gewissen "Beharrungswillen" vieler Wissenschafter aus dem Fachgebiet.

Eine Fundstelle bietet alles, was gebraucht wird

Anhand von Radiokarbondaten von zahlreichen organischen Fundstücken aus der sehr gut analysierten Grabungsstelle in Sindos nahe Thessaloniki gingen Gimatzidis und Weninger nun daran, die historischen Daten aus dem Nahen Osten zu überprüfen. Da C14-Analysen aufgrund von Schwankungen des atmosphärischen C14-Gehalts meistens keine punktgenauen Angaben zulassen, brauchte es eine durchgehende Stratigraphie (also eine durchgehende Abfolge von Schichten), um die Daten in ein statistisches Modell zu gießen. Sindos kann damit aufwarten, zudem fanden sich hier Keramikgefäße aus vielen Teilen Griechenlands, die Querverbindungen zu verschiedenen regionalen Chronologiesystemen ermöglichten, erklärt Gimatzidis.

Nun traue man sich zu sagen: "Wir haben zum ersten Mal empirische Daten, die präzise sind" und "ganz überraschende Ergebnisse bringen", so die Archäologen. Die als "Spätgeometrisch I" bezeichnete Phase wurde bisher von 760 bis 735 vor unserer Zeitrechnung eingeordnet. Sie war der neuen Analyse zufolge aber deutlich länger und habe bereits um 870 begonnen, sagt Gimatzidis.

Vorerst nur ein Vorschlag

Das würde dann eine ganze Kette von Umdatierungen nach sich ziehen. So könnten sich unter anderem die Annahmen über den Beginn der griechischen Kolonisierung in Italien und in der Nordägäis, die Ausbreitung des Alphabets oder eben die Komposition der homerischen Epen in ihrer heute bekannten Form verändern. Gimatzidis spricht von "einer ganz wichtigen Korrektur im griechischen Chronologiesystem".

Die Wissenschafter suchen nun nach weiteren Fundorten im Ägäisraum, um ihre Datierungsvorschläge zu überprüfen. Vor allem die traditionsreichen österreichischen Grabungen im antiken Ephesos in der heutigen Türkei würden weitere Radiokarbondaten für diesen Zeitraum versprechen: "Selbst wenn unser Vorschlag so nicht hält, sind wir davon überzeugt, dass sich die konventionelle Chronologie in eine ähnliche Richtung ändern muss", so der Archäologe. (red, APA, 27. 5. 2020)