Die Ohrmuscheln von Säugetieren weisen eine erstaunliche Formen- und Größenvielfalt auf. Das eigentliche Wunderwerk aber liegt darunter, im Zusammenspiel der Knöchelchen.
Foto: APA/AFP/MIGUEL ANGEL GRAGEDA

Lange zu einem Dasein im Schatten gigantischer Reptilien verdammt, hatten die Säugetiere jede Menge Zeit, eine Reihe anatomischer Innovationen hervorzubringen, die sich als überaus nützlich erweisen sollten. Eine davon sind ihre Ohren, mit denen weder Vögel noch Reptilien mithalten können. Wiener Forscher haben diese Besonderheit näher untersucht und berichten darüber im Fachjournal "Evolutionary Biology".

Komplexe Ausgangslage

Eingekapselt in den dichtesten Knochen des ganzen Skeletts, umfasst das Ohr von Wirbeltieren mit den Gehörknöchelchen zugleich die kleinsten Knochen von allen. Es ist Sitz des Gehör- und Gleichgewichtssinns, außerdem ist es an der Kopf- und Körperhaltung sowie an der Blickstabilisierung bei Kopfbewegungen beteiligt. Nirgendwo sonst im Wirbeltierskelett sind so verschiedene funktionelle Einheiten derart eng aneinandergereiht, sagt Philipp Mitteröcker vom Department für Evolutionsbiologie der Universität Wien.

All dies erschwert eine unabhängige Evolution der einzelnen Komponenten des Ohrs. Entsprechend rätselhaft ist es, wie Säugetiere dazu in der Lage waren, als vorwiegend nachtaktive und auf das Hören angewiesene Gruppe eine so große Vielfalt von ökologischen Nischen im Wasser, an Land, unter der Erde und in der Luft zu besiedeln. Schließlich erfordern diese verschiedenen Lebensweisen nicht nur eine Anpassungen der Hörfähigkeiten, sondern auch eine Vielfalt bei der Fortbewegung und Körperhaltung.

Entscheidender Schritt

Im Lauf der Evolution haben sich die drei Gehörknöchelchen der Säugetiere (Hammer, Amboss und Steigbügel) aus den Knochen des primären Kiefergelenks entwickelt, erklärt Mitteröcker. Bei Vögeln und Reptilien bestehen der Unterkiefer und dessen Gelenk noch aus mehreren Knochen, hier überträgt lediglich ein einziges Gehörknöchelchen den Schall.

Im Gegensatz dazu sind die Gehörknöchelchen und der knöcherne Trommelfellring (Ectotympanon) der Säugetiere vom Kiefer getrennt. "Diese evolutionäre Transformation des ursprünglichen Kiefergelenks in die Gehörknöchelchen von Säugetieren ist einer der herausragendsten Schritte der Wirbeltierevolution", so der Evolutionsbiologe.

Zum Vergleich: das Innenohr eines Säugetiers (links) und das eines Vogels.
Illustration: Anne Le Maître, Universität Wien

Mitteröcker und sein Team von der Uni Wien und dem Konrad-Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung gingen den Fragen nach, warum diese komplexe Veränderung stattgefunden hat und wie sich die verschiedenen Teile des Ohrs unabhängig voneinander an die unterschiedlichen Funktions- und Umweltbedingungen in den diversen Lebensräumen, die Säugetiere besiedeln, anpassen konnten.

Die Wissenschafter gehen davon aus, dass die Integration der Kiefergelenks-Knochen in das Ohr der Säugetiere nicht nur das Kauen und Hören verbesserte. Es erhöhte auch die Fähigkeit zur evolutionären Anpassung des Ohrs, also die sogenannte "Evolvierbarkeit". Beim einfacher gebauten Ohr der Reptilien und Vögel sind auch entsprechend weniger Gene bzw. genregulatorische Elemente und entwicklungsbiologische Prozesse involviert. Beim komplexeren Säugetier-Ohr gibt es dagegen mehr genetische und entwicklungsbedingte "Knöpfe", an denen die natürliche Selektion "drehen" kann. Entsprechend größer ist auch die evolutionäre Freiheit für eine unabhängige Anpassung der verschiedenen Komponenten des Ohrs.

Potenzial genutzt

"Wir glauben, dass die evolutionäre Integration der primären Kiefergelenksknochen in das Ohr der Säugetiere, die übrigens mindestens drei mal unabhängig voneinander stattgefunden hat, den Säugetieren einen langfristigen Vorteil verschafft hat", sagt Mitteröcker. Sie konnten sich dadurch erfolgreich an die zahlreichen ökologischen Nischen anpassen.

Das Ohr der Vögel funktioniere durchaus gut, seine Strukturen konnten sich aber möglicherweise nicht noch spezifischer anpassen. Die Säugetiere konnten dagegen eine viel größere morphologische und funktionelle Vielfalt und sogar evolutionäre Neuheiten entwickeln – nicht schlecht für eine Tiergruppe, deren Vielfalt um einige tausend Arten kleiner ist als die der Vögel. (APA, red, 28. 5. 2020)