Im Boden des ehemaligen Lagers Liebenau wurden jetzt auch Alltagsgegenstände wie Kämme aus Kunststoff und Horn gefunden.

Foto: Argis

Auch Reste von Zahnbürsten wurden von den Archäologen dokumentiert.

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Bei Grabungsarbeiten für ein Denkmal entdeckt: Ledersohlen von Kinder- und Erwachsenenschuhen.

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Er hatte offenbar doch recht. Der Grazer Arzt und mittlerweile passionierte Historiker Rainer Possert vermutet seit Jahren – aufgrund entsprechender Erzählungen alter Patienten–, dass unter dem Areal des ehemaligen NS-Lagers im Wohnbezirk Liebenau noch hunderte Opfer begraben liegen könnten. Neue brisante Funde von Archäologen und aufgetauchte Protokolle von Überlebenden könnten Posserts Befürchtungen nun bewahrheiten.

Bei Grabungsarbeiten für die Errichtung einer Lager-Gedenktafel entdeckten Archäologen jetzt große Mengen von Resten persönlichen Gegenstände ehemaliger Lagerinsassen: Kämme, Ledersohlen von Kinder- und Erwachsenenschuhen, Spielsachen und bunte Schmucksteine waren darunter.

1945, knapp vor Kriegsende, wurden die Todesmärsche der rund 8000 ungarischen Juden nach Mauthausen vom Grazer Lager in Liebenau aus organisiert. "Der Verbleib vieler Opfer", sagt Possert, der mittlerweile auch von den offiziellen Stellen in die historische Aufarbeitung miteingebunden wurde, "ist tatsächlich ungeklärt".

Aber gerade weil auf dem Gedenkort Sozialwohnungen errichtet werden sollen, wäre es "allein aus Gründen des Anstandes geboten, zumindest dort nach Opfern zu suchen", sagt Possert im Gespräch mit dem STANDARD.

"Er erschoss ein Kind"

Er unterstreicht seine Forderung mit einem von ihm kürzlich entdeckten Protokoll einer 1945 im "Landesbüro von Deportierten" in Budapest aufgenommenen Aussage eines Lager-Überlebenden. Dieser erinnerte sich: "Wir kamen in das Lager Liebenau. Das war ein Todesgeschäft. Die SS brachte die Juden um. Man sagte, aus diesem Lager kommt man nur als Leiche heraus. Es gab dort Häftlinge aller möglichen Nationalitäten, aber von denen waren wir Juden vollständig getrennt, und es war streng verboten, mit ihnen Kontakt zu haben. Nachts, ganz geheim, gingen wir doch zu ihnen, und sie gaben uns immer etwas, denn wir waren in schrecklichem Zustand. Sie bekamen auch im Lager bessere Verpflegung als wir. Einmal passierte es, dass ein SS seine Uhr hervornahm und sagte: ‚In fünf Minuten gibt es hier eine Leiche. Wenn du in fünf Minuten keine Leichengrube schaufeln kannst, gibt es zwei Leichen.‘ Wir haben die Grube ausgehoben und dann, vor unseren Augen, erschoss er ein verrücktes, polnisches Kind. Ein Schwerkranker wurde von einem SS erschossen, und wir mussten ihn begraben."

Leichen im Müll

Sie seien "ganze Tage" beschäftigt gewesen, Leichen zu exhumieren und sie "von einem Ort an den anderen" zu schaffen. "Das Ganze hatte überhaupt keinen Sinn. Es kann sein, dass sie die Spuren ihrer Grausamkeiten verwischen wollten. Wenn sie den Leichengeruch nicht mehr ertrugen, mussten wir die Müllgruben entleeren und mit dem Müll die Bombenkrater auffüllen."

Possert befürchtet nun, dass die notwendigen Grabungen vor allem an den Stellen der alten Bombentrichter wieder gestoppt werden. Ihm sei signalisiert worden, dass das Geld für weitere Explorationen aufgrund der Corona-Krise fehle. Kulturamtsleiter Michael Grossmann sagt dem STANDARD, die Stadt sei weiterhin "sehr interessiert", die Sache aufzuklären.

"Natürlich stehen wir jetzt vor einer neuen Finanzsituation. Es ist aber nach wie vor der Plan, das Areal genau zu untersuchen und Verdachtsflächen festzulegen. Sollten dann tatsächlich Leichenteile gefunden werden, wird das Innenministerium eingeschalten und das Grundstück gesichert", sagt Grossmann.

Wohnbauprojekt am Lagergelände

Nach Abschluss aller Untersuchungen, in die auch das Bundesdenkmalamt federführend eingebunden ist, könnte das Gebiet "letztlich wieder freigegeben werden". Dann stünde dem Sozialwohnungsprojekt auf dem Lagergelände "im Grund nichts mehr im Wege". Die Nutzung alter Lagerareale für andere Nutzungen "ist an und für sich nicht ungewöhnlich", argumentiert Grossmann. (Walter Müller, 28.5.2020)