Nicolas Hulot ist ein Optimist – allerdings wird dies in Zeiten der Krise durchaus auf die Probe gestellt.

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Nicolas Hulot ist der wohl bekannteste Umweltschützer Frankreichs. Seit Jahrzehnten macht er auf die Gefahren der Umwelt- und Klimakrise aufmerksam – teils mit spektakulären Mitteln. Nun, wo die Corona-Krise über sein Land und ganz Europa hinwegrollt, blickt er über den Tellerrand.

STANDARD: Brauchte es ein Virus, um das Bewusstsein für die Umweltprobleme des Planeten zu vermitteln?

Hulot: Ich hätte es angesichts des menschlichen und ökonomischen Leides natürlich vorgezogen, dass es ohne geht. Wir zahlen dafür einen hohen Preis. Ich kann nur sagen: Warten wir nicht auf weitere Krisen! Nach der humanitären Nothilfe müssen die Staaten, allen voran die EU, ein Inventar erstellen, ausgehend von der Frage: Was wollen wir bewahren, was aufgeben oder ändern? Unsere Gesellschaft ist geschwächt, sie befindet sich in einem kritischen Moment. Eine Fehlentwicklung führt zu einem Bumerang-Effekt, fällt also auf uns zurück. Das zeigt sich gerade auch in der aktuellen Krise.

STANDARD: Ist diese Krise auch eine Chance für ein Umdenken?

Hulot: Natürlich. Wenn ich so etwas sage, nennt man mich naiv; aber ich denke, dass es möglich ist, ein dauerhaftes emanzipiertes System anstelle des Neoliberalismus zu konstruieren. Man hört Stimmen, die massiven Sperren wegen des Coronavirus seien übertrieben im Vergleich zu den hunderttausenden Toten, die der Klimawandel verursacht. Ich sehe das anders: Wir unternehmen nicht zu viel in der Corona-Krise, sondern zu wenig gegen die anderen Krisen! Wir tun zu wenig für die Todesopfer aufgrund der Umweltverschmutzung, zu wenig für die Klimavertriebenen. Auf sie achten wir schon gar nicht mehr. Dabei zeigt die aktuelle Krise, dass wir resolut agieren können. Aber wir dürfen nicht länger glauben, dass wir am Schluss doch noch verschont oder gerettet werden.

STANDARD: Sehen Sie einen direkten Bezug zwischen Virus und Umweltschäden?

Hulot: Die Wissenschafter unserer Stiftung (Fondation pour la Nature et l'Homme, Anm.) gehen von der Hypothese aus, dass das Virus plötzlich den Träger gewechselt hat und pathogen geworden ist, nachdem es sich seit Urzeiten in seinem angestammten Ökosystem bewegt hatte. Viren wie Sars oder Ebola sind nicht das einzige Indiz. Ein anderes ist das Aufkommen der Tigermücke, die das Denguefieber überträgt, bis in unsere Breitengrade. Die Temperaturzonen verlagern sich und bringen diese Krankheiten in den Norden. Klimawandel und Zerstörung der Ökosysteme – alles hängt zusammen.

STANDARD: Werden wir auch nach dem Lockdown auf gewisse Freiheiten verzichten müssen?

Hulot: Man hätte es nicht für möglich gehalten, aber diese Einschränkungen wurden weitgehend akzeptiert – ganz einfach, weil die Leute ihren Sinn eingesehen haben. Auf diesem Weg müssen wir weitergehen. Nicht indem wir die Freiheit einschränken, sondern indem wir aufhören, unsere Zukunft zu beeinträchtigen. Wir müssen unsere Produktions- und Konsummethoden überdenken. Die CO2-Wirtschaft abbauen, toxisches Verhalten ändern – das darf uns nicht länger Angst machen.

STANDARD: Ist Entschleunigung angesagt?

Hulot: Im Bereich der humanitären Hilfe müssen wir jetzt sehr schnell handeln. Aber danach müssen wir das überstürzte Tempo unserer Welt verlangsamen.

STANDARD: Sollen wir weniger fliegen?

Hulot: Es geht nicht darum, solche Gewohnheit auf einen Schlag zu stoppen, sondern darum, vernünftig zu fliegen, indem man eine CO2-Kompensation in den Ticketpreis einbaut. Wenn der Flug einer Person zehn Tonnen kostet, hat sie zwanzig Tonnen in die Wiederherstellung eines Ökosystems zu stecken.

STANDARD: Vor Ihrer Ministerzeit waren Sie ein Fernsehstar dank der Umweltsendung "Ushuaia", die aus allen Erdwinkeln berichtete. Was sagen Sie den Globetrottern heute: Sollen sie Weltwunder wie den Machu Picchu nicht mehr bereisen?

Hulot: Wenn das Bewusstsein unserer Grenzen vor 20 oder 30 gleich gewesen wären, hätte ich hoffentlich die Konsequenzen gezogen. Heute fällt mir der Verzicht leichter. Ich reduziere meine Reisen massiv. Es mir ein Vergnügen, in der Nähe zu reisen. Wir müssen anders reisen. Das Gefühl eines Umgebungswechsels ist auch in der Nähe möglich, und dafür sind Flugreisen nicht immer nötig.

STANDARD: Müssen wir auch auf den Freihandel verzichten?

Hulot: Es geht nicht darum, die Grenzen zu schließen. Aber wir müssen mit denen Handel treiben, die ähnliche ökologische und soziale Vorgaben haben. Machen wir ein Inventar, bewahren wir, was uns schützt, und ändern wir, was uns exponiert. Verkaufen wir nicht Herbizide ins Ausland, wenn wir es bei uns verboten haben. Kurz: Gehen wir vom freien zum gerechten Handel über. Auch kann China nicht ewig für Europa produzieren. Gewisse Produktionsketten müssen wir auf unseren Kontinent zurückbringen.

STANDARD: Besteht nicht die Gefahr, dass wir nach der Krise in die alte Welt zurückfallen?

Hulot: Ich denke, dass die Welt von morgen radikal anders sein wird als die heutige. Wir können es uns schlicht nicht mehr leisten, immer mehr Krisen zu haben. Dafür muss aber die Politik wieder wichtiger werden als die Finanz. Wir müssen die Steuerflucht und die Spekulation bekämpfen und dürfen nicht mehr zögern, die Schulden zu erhöhen. Die EU muss während sieben Jahren mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Hilfe der Ärmsten einsetzen, für die Bildung, die Entwicklung neuer industrieller Strategien, die Energiewende.

STANDARD: In Frankreich gehen die ersten Milliardenhilfen allerdings an CO2-Sünder wie den Autohersteller Renault und die Fluggesellschaft Air France ...

Hulot: Wenn wir diese Firmen jetzt nicht retten, gehen Millionen Jobs verloren. Danach müssen wir aber Gegenleistungen verlangen. Es ist die Rolle des Staates, regulierend einzugreifen: Wir brauchen weniger thermische Automotoren, weniger Inlandflugstrecken, die auch die Eisenbahn übernehmen kann.

STANDARD: Hat die Reaktion der Bürger in der Covid-Krise nicht gezeigt, dass man nicht mehr alles vom Staat erwarten sollte?

Hulot: Idealerweise kombiniert sich politischer Wagemut mit dem Bürgerwillen. Das setzt ein gewisses Vertrauen in die Politik voraus. Gerade in Frankreich fehlt das, und das ist gefährlich. Aber die Bürger sind auch nicht frei von Widersprüchen. Als ich Umwelt- und Energieminister war, erhielt ich ebenso viele Petitionen gegen Windräder wie gegen Atomkraftwerke.

STANDARD: Warum sind Sie als Umweltminister von Präsident Macron 2018 zurückgetreten?

Hulot: Die Ökologie ist eine Frage der Zivilisation. Es genügt nicht, sie einem Umweltminister zu übertragen. Schon gar nicht, wenn daneben ein Agrarminister konträre Aufgaben wahrnimmt. Ich bin zurückgetreten, als ich die Gewissheit hatte, dass ich weder die politischen noch die finanziellen Mittel haben würde, um die Energiewende wirklich irreversibel zu gestalten. Ich merkte, dass die Politik entmachtet worden ist durch die Finanz. Die EU könnte das ändern, wenn sie zum Beispiel gemeinsame Steuern schaffen würde oder wenn sie gegen die Steueroptimierung und Steuerparadiese vorgehen würde. (Stefan Brändle aus Paris, 1.6.2020)