Der nigerianischen Armee werden schwere Vergehen vorgeworfen.

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Tausende Kinder werden von der nigerianischen Armee im unruhigen Nordosten des Landes unter dem Verdacht, der islamistischen Extremistengruppe Boko Haram anzugehören, verhaftet, teilweise für Jahre ohne Gerichtsverfahren festgehalten, gefoltert und zur Zwangsarbeit gezwungen. Diese Vorwürfe werden in einem über 90-seitigen Bericht von Amnesty International (AI) erhoben, den die Menschenrechtsorganisation jetzt in London veröffentlicht hat.

In den zwei Jahrzehnten des Konflikts zwischen der Extremistengruppe und den Sicherheitskräften seien mindestens 10.000 Menschen – "viele von ihnen Kinder" – unter schlimmsten Bedingungen in Militärgefängnissen gestorben, heißt es in dem Bericht, der nach Angaben der Organisation auf den Aussagen von 230 mehrheitlich jugendlichen Interviewten beruht. "Es ist kaum zu glauben, dass Kinder irgendwo in der Welt auf diese schreckliche Art behandelt werden von einer Armee, die sie eigentlich beschützen sollte", sagte Joanne Mariner, AI-Direktorin für Krisenreaktionen, bei der Vorstellung des Berichts.

Vielen der von den Militärs inhaftierten Jugendlichen war entweder die Flucht aus von der Extremistengruppe kontrollierten Gebieten gelungen, oder sie wurden bei der Einnahme solcher Territorien von Soldaten aufgegriffen. In beiden Fällen trauen die Sicherheitskräfte den Beteuerungen der Jugendlichen offenbar nicht, sondern halten sie für Sympathisanten der Islamisten. Ein 14-Jähriger erzählte AI-Mitarbeitern, er sei mit seiner Familie auf der Flucht vor Boko Haram von Soldaten aufgegriffen worden, die ihren Versicherungen keinen Glauben schenkten. Sie wurden ins Militärlager Giwa gebracht, wo die Bedingungen "schrecklich" gewesen seien, erzählt der Bub. "Die Zelle war so voll, dass wir uns nicht einmal hinlegen konnten. Es war heiß, unsere Kleider waren nass, man hätte sterben können. Bis heute hat mir niemand gesagt, wieso wir eigentlich festgehalten wurden. Ich frage mich, warum wir von Boko Haram weggerannt sind."

Erzwungene "Geständnisse"

Jeder Flüchtling aus einem von den Extremisten kontrollierten Gebiet werde von Soldaten erst einmal verhört, heißt es in dem Bericht. Dabei würden die "Verdächtigen" oft geschlagen, bis sie ihre Zugehörigkeit zu Boko Haram unfreiwillig "gestehen". Anschließend würden sie in eines von drei Internierungslagern der Armee gebracht, in denen den Schilderungen der Interviewten zufolge unmenschliche Bedingungen herrschten: "Extreme Überbelegung, brüllende Hitze, überall Parasiten, Urin und Kot auf dem Boden, weil es keine Toiletten gibt." In diesen Militärlagern seien inzwischen "mindestens 10.000 Menschen gestorben", teilt die Menschenrechtsorganisation mit. Die Praxis erfülle den Tatbestand der Folterung und sei ein Kriegsverbrechen.

Nigerias Militär wies die Vorwürfe unterdessen als "bloße Behauptungen" zurück. Es gebe "keinerlei Basis" für solche Anschuldigungen, sagte Armeesprecher Sagir Musa. Nigerias Sicherheitskräften wurden allerdings schon in der Vergangenheit mehrfach schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen: So sollen Soldaten regelmäßig ganze Dörfer dem Erdboden gleichmachen, deren Bewohner sie der Kooperation mit Boko Haram bezichtigen.

Armee reagiert empfindlich

Die Vorwürfe veranlassten den Internationalen Strafgerichtshof in den Haag, eine Untersuchung wegen möglicher Kriegsverbrechen einzuleiten. Als Amnesty International im vergangenen Jahr derartige Übergriffe der Armee anprangerte, drohte die Regierung der Organisation mit einem Verweis aus Nigeria. Die Streitkräfte reagieren auf Menschenrechtsvorwürfe empfindlich, weil sie aus diesem Grund bereits keine Waffen aus den USA mehr beziehen können.

Schon seit Jahren kündigt Präsident Muhammadu Buhari regelmäßig den unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch Boko Harams an, doch die Angriffe der Sekte gehen unvermindert weiter. Erst vor wenigen Tagen wurden wieder Gefechte aus der Region am Tschad-See gemeldet. Für die UN handelt es sich bei der Lage in den Bundesstaaten Borno, Adamawa und Yobe um "eine der derzeit ernsthaftesten humanitären Notlagen der Welt". Dort kamen seit der Jahrtausendwende fast 40.000 Menschen ums Leben, während zwei Millionen ihre Heimat verloren. (Johannes Dieterich, 28.5.2020)