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Das Klischee – und was soll jetzt kommen?

Foto: Getty Images

In Videomeetings haben wir die Kollegen, auch die Vorgesetzten, anders kennengelernt. Sogar in die Wohnungen, in die Bücherregale und auf die Flecken am zum Arbeitstisch umfunktionierten Küchentisch haben wir geschaut. Über Bilder und Wandschmuck haben wir uns gewundert. Sogar bei den Diszipliniertesten haben sich zunehmend saloppe Bekleidungsstücke eingeschlichen. Und jetzt soll alles wieder zurück zum alten Dresscode, sobald ein paar von uns im Office sind?

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"Wir haben alles gesehen", werden wir dereinst sagen, wenn im Schaukelstuhl unseren Kindern und Kindeskindern Geschichten aus der Corona-Zeit erzählen. Ja, wahrhaft unglaubliche Bilder waren es, die sich vor den Webcams abspielten: Wir haben die Kollegen in Jogginghose oder im Pyjama gesehen, unfrisiert, unrasiert oder im verblichenen Drei-Euro-T-Shirt, das auch aus dem Ibiza-Video stammen könnte.

Und was man einmal gesehen hat, kann bekanntlich schwer ungesehen gemacht werden. Nein, es gab kein Zurück mehr. So schritten wir nach der Krise in Sneakers und ohne Krawatte zurück in die Büros. So oder so ähnlich könnte die Erzählung lauten.

Wie so vieles könnte es rückblickend absurd anmuten, wie sich manche Branchen mit ihren Kleidungsvorschriften gegen die Existenz von Jahreszeiten stemmen. Während im Juli draußen der Asphalt davon schwimmt, kühlen sie ihre Bürotürme so weit herunter, dass den Pinguinen drinnen nicht zu heiß wird.

Dabei werden die Klimawandelanlagen immer mehr zum Problem. Bald werden wir mehr Energie für die Kühlung von Gebäuden verwenden als zum Heizen. Und die warme Luft, die Klimaanlagen auf die Straßen schießen, trägt zur Bildung von Urban Heat Islands bei.

Auch Japan brauchte eine Krise, um umzudenken. Als nach Fukushima der Strom knapp war, verstärkte die Regierung ihre Aktion "Cool Biz". Die Klimaanlagen wurden gedrosselt, Beamte durften dafür in legerer Kleidung erscheinen. Große Unternehmen schlossen sich an. Sogar Vorschläge, wie man trotzdem professionell auftritt, veröffentlichte die Regierung.

Einer im renommierten Fachjournal "Nature Climate Change" veröffentlichten Studie zufolge ist die Temperatur in Büros außerdem auf einen 40-jährigen Mann um die 70 Kilo eingestellt. Frauen, die einen anderen Metabolismus haben und – weil gesellschaftlich akzeptiert – im Sommer oft leichter bekleidet sind, frösteln bei den Temperaturen oft. Ein bisschen mehr heiße Luft im Büro würde auch ihnen gut tun.


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Manche müssen ihre nahezu globale Bedeutsamkeit täglich demonstrieren, sie sitzen wahrscheinlich auch zu Hause in Anzug und Krawatte, im dunkelblauen Kostüm mit weißer Bluse und Strumpfhose, perfekt geschminkt. Gerade dass sie ihre Etiketten von Gucci, Prada, Chanel und Co nicht vervielfältigen und überall außen aufnähen. Manche sind wiederum einfach lässig. Einige haben viel Geschmack, einige keinen, und die meisten ziehen halt das ins Büro an, was die Unternehmenskultur verlangt. Aus der Modestraße oder sonst woher.

Damit hat die Mehrheit auch recht. Und es zeigt sich, wie nützlich Orientierung auch bezüglich Dresscode im Büro ist. Für Bürogeher gibt es ja schließlich auch eine Art Zunftgarderobe, wie bei den Bäckern, den Rauchfangkehrern, den Malern. Der Blaumann der Bürogeher ist – für Herren – die lange Hose und der geschlossene Schuh. Für Damen ist alles ein wenig lockerer – bauchfrei geht allerdings nie. Wer neu dazukommt, muss nicht viel herumfragen, es ist sofort ersichtlich, was in dieser Firma (ungeschriebener) Dresscode ist. Dabei handelt es sich auch um Traditionen. Nichts gegen deren Weiterentwicklung, nichts gegen ein bewusstes Rebellieren, Verweigern der Rüstung, wenn man gerade seinen Steppenwolf-Tag hat.

Aber alles freigeben, den jeweiligen Bekleidungsvorlieben folgen? Bitte nicht. Vor allem in den warmen Monaten läuft es aus dem Ruder. Das Ergebnis sind einmal zu oft Flipflops bei den Herren. Ruderleiberln bei den tätigen Abonnenten von Fitnesscentern. Schlapfen ebenso in der weiblichen Belegschaft (inklusive entsprechender Geräusche beim Gehen) und andere Sachen, die eh jeder kennt.

Andererseits ist das noch gar nicht der zentrale Punkt. Dresscodes haben eine ungeschriebene Ordnungsfunktion. Wer bewusst anders auftritt im Dresscode-Kontext, hat sich damit entschieden, sich selbst zu thematisieren, aufzufallen. Gut! Aber aushalten muss man es dann auch noch, Bassenagespräche inklusive. Und in Kauf nehmen, dass im Dresscode-Umfeld der Statusspiele damit eine klare Außenposition signalisiert ist. (30.5.2020)