Im März 1814 kehrte Ferdinand VII. als neuer König von Spanien aus Frankreich zurück. In die spanische Geschichte ging er als absolutistischer Herrscher ein, der die liberale Verfassung von Cádiz aus dem Jahr 1812 für nichtig erklärte und ein Folter- und Gewaltregime etablierte. Als er in Spanien ankam, wurde er von seinen Anhängern mit dem Spruch "¡Muera la libertad! ¡Vivan las cadenas!" ("Tod der Freiheit! Es leben die Ketten!") empfangen. Die Redewendung "Es leben die Ketten!" verweist in Spanien noch heute auf die Neigung von Teilen der Gesellschaft zur Unterwürfigkeit.

In Zeiten der Covid-19-Pandemie scheint es zu einer Renaissance der politischen Hinwendung zur Anordnung von Einschränkungen und deren Akzeptanz in der Bevölkerung zu kommen. Waren die ursprünglichen Ausgangs-, Betretungs- und Reisebeschränkungen aus einer gesundheitspolitischen Perspektive richtig und nachvollziehbar, so dreht sich die wirtschaftspolitische Diskussion mittlerweile bereits um die Rolle der Globalisierung bei der Ausbreitung sowohl des Virus als auch der ökonomischen Konsequenzen der Pandemie.

Mehr statt nach weniger Globalisierung

Globalisierungskritiker verspüren Aufwind und erneuern ihre Forderungen nach einer Rückverlagerung wichtiger Produktionen und nach der Abschaffung von Freihandelsbestimmungen der EU. Neu ist allerdings, dass inzwischen selbst auf Regierungsebene Covid-19 als "Weckruf" bewertet wird und die Vorteile einer dezentralen und globalisierten Produktion von Waren angezweifelt werden.

Der positive Beitrag der Globalisierung wird vielfach übersehen und nicht berücksichtigt.
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Die entsprechenden Überlegungen werden anhand eines vermeintlichen Trade-offs zwischen Effizienz (Kostenminimierung) und Resilienz (die Fähigkeit, globale Produktionsrisiken zu dämpfen) dargestellt. Wie eine Deglobalisierungsstrategie, die zu einer räumlichen Konzentration der Produktion führt, zu einer Stärkung der Resilienz von Lieferketten beitragen soll, bleibt hierbei zumeist unterbelichtet. Implizit schwingt die Vorstellung mit, dass in Europa keine regionalen Risikocluster auftreten könnten. Die Situation im deutschen Heinsberg und die Erfahrungen mit dem Tiroler Skiort Ischgl sollten uns jedoch bereits eines Besseren belehrt haben.

Eine nachhaltige Risikodiversifizierungsstrategie im Rahmen von Produktionsnetzwerken würde eigentlich eine breite Streuung von Einzelrisiken erfordern; also genau die gegenteilige Lösung von jener, die aktuell vorgeschlagen wird. Erreicht werden kann dies etwa durch den Bezug von Vorleistungen und Fertigprodukten aus unterschiedlichen Regionen der Welt. Im Ergebnis würde dies nach mehr statt nach weniger Globalisierung verlangen.

Wichtigkeit globaler Forschungs- und Kommunikationssysteme

Die mit der Globalisierung verbundenen Wohlfahrtsgewinne gehen weit über die Effekte durch reine Effizienzsteigerungen hinaus. Die grenzüberschreitende Mobilität und der Austausch von Ideen und Technologien über internationale Grenzen hinaus hat einen gigantischen Beitrag zum Wohlstand vieler Menschen weltweit geleistet. Die empirische Evidenz über die positiven Effekte von Handelsliberalisierung auf die ökonomische Entwicklung ist eindeutig und die Übereinstimmung darin, dass Handelsbarrieren möglichst abgebaut werden sollten, ist bei Wirtschaftswissenschaftern so groß wie in keiner anderen wirtschaftspolitischen Frage. Der positive Beitrag der Globalisierung zum Wirtschaftswachstum hat das durchschnittliche Gesundheitsniveau in vielen Entwicklungsländern wesentlich gesteigert und die Menschheit insgesamt widerstandsfähiger gegenüber Krankheiten gemacht.

Während der direkte Effekt erhöhter Mobilität auf die weltweite Übertragung von infektiösen Krankheiten offensichtlich ist, sind die positiven Effekte der Globalisierung für den medizinischen Fortschritt nicht immer unmittelbar sichtbar und werden daher im Rahmen der Diskussion um eine mögliche Deglobalisierung kaum mitbedacht. Globale Forschungs- und Kommunikationssysteme erleichtern die Entwicklung von neuen Impfungen und medizinischen Therapien. Freie Märkte verbessern die weltweite Verteilung von und Versorgung mit Medikamenten. Die Öffnung von Märkten hat Innovationen im pharmazeutischen Sektor auch in Entwicklungsländern beschleunigt, hauptsächlich durch den verbesserten Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der internationalen Forschung.

Diese positiven Effekte der Globalisierung auf Innovation sind in der Tat stärker für ärmere Länder mit schwachen Institutionen und fungieren als eine der treibenden Kräfte für die beobachtete Einkommenskonvergenz zwischen ärmeren und reicheren Ländern. Die existierende wissenschaftliche Evidenz zeigt, dass die Entdeckung, Entwicklung und Verteilung eines Impfstoffs oder einer medizinischen Therapie gegen Covid-19 in einer weniger globalisierten Welt wesentlich schwieriger zu organisieren wäre. Sich im Affekt, aus Angst oder ideologisch motiviert infolge der Covid-19-Pandemie selbst wirtschaftliche Ketten anzulegen mag für manche verlockend wirken, doch die Evidenz spricht eine andere Sprache: Für die wirtschaftliche Erholung und die mittelfristige Entwicklung ist die Ausbreitung von Protektionismus und überbordendem Wirtschaftsnationalismus eine ernste Bedrohung – eine potenziell noch gefährlichere als die Covid-19-Pandemie selbst. (Harald Badinger, Jesús Crespo Cuaresma, Harald Oberhofer, 2.6.2020)