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Achille Mbembe: "Der größte moralische Skandal unserer Zeit."

Foto: Daniel Bockwoldt / dpa / www.picturedesk.com

Auf der Webseite Avaaz findet man Kampagnen und Petitionen zu allen möglichen Themen. Ein Wunderheilplan für den Planeten wird dort ebenso verfochten wie ein Verbot von Genitalverstümmelungen in Somalia oder von Bombenangriffen auf Schulen in Jemen. Inmitten der Bemühungen um eine bessere Welt findet sich auch ein Brief an Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier, die höchsten Vertreter der Bundesrepublik Deutschland. Ludovic Lado, ein Jesuitenpater aus Kamerun, ruft im Namen afrikanischer Intellektueller zur Unterstützung des Philosophen Achille Mbembe und gegen die "Instrumentalisierung von Antisemitismus" auf. 794 Menschen hatten bis zum vergangenen Mittwoch unterzeichnet. Der offene Brief, wie er in den Medien meist bezeichnet wird, markiert eine weitere Stufe in der zunehmend komplizierter werdenden Debatte um die Frage, ob Mbembe mit seiner Kritik an der Politik des Staates Israel die Grenze zum Antisemitismus überschritten hat.

Entsprechende Vorwürfe waren im März zum ersten Mal geäußert worden, in der Vorwoche wurden sie von Paul Klein, dem Antisemitismusbeauftragten der deutschen Bundesregierung, noch einmal bekräftigt. Achille Mbembe selbst hat sich in einem "Brief an die Deutschen" verteidigt, ging dabei aber nicht wirklich auf die kritischen Punkte ein, sondern skizzierte ausführlich sein intellektuelles Projekt.

Zuletzt fiel in den Beiträgen zu der Debatte mehrfach ein gewichtiger Begriff: Der Fall Mbembe habe inzwischen die Dimension eines neuen Historikerstreits erreicht, schrieb diese Woche auch der New Yorker Philosoph Omri Boehm in der Süddeutschen Zeitung. Mit diesem Hinweis gewinnt die Sache tatsächlich einen Schlüssel. Denn im Historikerstreit in den 1980er-Jahren ging es um die Bewertung des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und um den Genozid an den europäischen Juden. Die sehr nuancierten, aber auch sehr leidenschaftlich geführten Bemühungen darum, den Eroberungskrieg und die Vernichtungspolitik angemessen zu verstehen, zu bezeichnen und einzuordnen, liefen letztlich darauf hinaus, die Einzigartigkeit dieser Geschehnisse hervorzuheben.

Die stalinistischen Verbrechen in der Sowjetunion sollten nicht für relativierende Vergleiche dienen. Stattdessen ging es, auch im Sinne einer Vergangenheitsbewältigung, die sich der deutschen Schuld zu stellen bemüht, darum, die Singularität von Auschwitz nicht zu verleugnen. Der konservative Historiker Ernst Nolte, der den Historikerstreit auslöste, hatte hingegen den sowjetischen "Klassenmord" dem deutschen "Rassenmord" an die Seite gestellt und von einem "europäischen Bürgerkrieg" gesprochen.

Mögliche bewusste Unklarheiten

Unter den Vorwürfen, mit denen Achille Mbembe seit einigen Wochen konfrontiert wird, bezieht einer sich auch auf eine möglicherweise bewusste Unklarheit, wenn er von Israel spricht: Meint er den Staat, der 1948 gegründet wurde, und zu dem gerade Deutschland, aber auch Österreich eine Beziehung besonderer Verantwortung unterhalten? Oder meint er das Israel, das 1967 den Sechstagekrieg gewann und seither umfangreiche Gebiete jenseits seiner ursprünglichen Grenzen besetzt hält? Oder meint er das Israel, das seit dem Scheitern des Oslo-Friedensprozesses im Jahr 2000 durch umfangreiche Siedlungstätigkeit eine Zwei-Staaten-Lösung zunehmend unrealistisch erscheinen lassen wollte?

Mbembe bezeichnet die Besetzung Palästinas als "den größten moralischen Skandal unserer Zeit", und genau genommen könnte er damit auch bereits die Ereignisse des Jahres 1948 meinen, die von den Palästinensern als "Nakba" (als "Katastrophe") erinnert werden. Er könnte also das Existenzrecht Israels als Staat insgesamt in Zweifel ziehen und damit eine der entscheidenden Folgen des Zweiten Weltkriegs.

Mbembe hat diesen Verdacht inzwischen ausgeräumt, aber zugleich wurden im Verlauf der letzten Wochen mehr und mehr Details bekannt, die auf jeden Fall auf eine starke Aversion gegen das heutige Israel schließen lassen. Seine Behauptung, er hätte die Boykott-Bewegung BDS nie unterstützt, wurde inzwischen widerlegt. Auch konkrete antisemitische Topoi finden sich in seinen Texten. Alle diese auf jeden Fall anfechtbaren und teilweise auch nicht zu tolerierenden Meinungen lassen sich jedoch besser verstehen, wenn man sie in den Kontext eines neuen Historikerstreits stellt, den Achille Mbembe eröffnet hat, ohne sich ausdrücklich auf den ersten zu beziehen.

Denn in seinem Werk geht es ganz zentral darum, den Begriff des Rassismus zu universalisieren. In seinem Hauptwerk Kritik der schwarzen Vernunft (2014) heißt es, dass Afrika der "zweifellos beunruhigendste Zeuge der Gewalt unserer Welt" ist. Die Erfahrung der "Neger", das Wort ist bei Mbembe ein Kampfbegriff für rassistisch Ausgegrenzte und Ausgebeutete, ist für ihn also über die Erfahrung der Juden in der Shoah zu stellen, die für die europäische Zivilisation diese Rolle der "beunruhigendsten Zeugen" einnehmen.

Das sagt er so nicht ausdrücklich, es wird aber aus dem größeren Kontext seiner Argumentation deutlich. Denn Afrika und "Neger" sind für ihn Konstruktionen, mit denen sich der Kapitalismus seit dem 15. Jahrhundert ein Opfer für seine ausbeuterische Gewalt geschaffen hat. Der rassistische Versuch, möglichst alle europäischen Juden zu vernichten, ist für Mbembe eben nicht singulär, wie er für die europäischen Historiker ist, die in der Shoah auch ein Symptom der Widersprüche der Moderne sehen. Denn für Mbembe sind diese Widersprüche deutlich größer.

Schockierende Befunde

Seine Beschreibung einer epochalen neuzeitlichen, neoliberalen Kondition läuft letztendlich auf einen schockierenden Befund hinaus: "Wir leben nicht in derselben Welt." Diese Welt ist nicht von Aufklärung und Menschenrechten bestimmt, sondern von einer Apartheid, die auch deutlich älter ist als das konkrete politische System, das Südafrika überwunden hat. Die Apartheid begann für Mbembe mit dem atlantischen Sklaven- und Plantagenregime, ohne das es den modernen Kapitalismus nicht gäbe. Die ursprüngliche Akkumulation, der der Westen seinen Reichtum verdankt, geschah auf dem Rücken der Schwarzen. Dass er Israel immer wieder durch den Vergleich mit der Apartheid kritisiert, hat seinen Kontext also darin, dass er damit die Perspektive deutlich erweitert.

Hier wäre dann auch der Punkt einer wirklichen Auseinandersetzung mit seinem Denken zu suchen. Die ganze Debatte würde erst dann wirklich fruchtbar werden, wenn beide Seiten sich auf das Feld des Gegenübers bemühen würden: Mbembe, der es sich mit dem theoretischen Jargon tatsächlich oft zu einfach macht, würde von einer genaueren Rezeption der europäischen Geschichtspolitiken als Denker stark profitieren. Seine Kritiker aber könnten von seinem Begriff des Rassismus eine Menge lernen. Denn andernfalls könnte es geschehen, dass sich ausgerechnet in den Versuchen, einem europäischen Menschheitsverbrechen nachträglich politisch (durch die Gründung und Legitimierung des Staates Israel) und intellektuell gerecht zu werden, die Strukturen eines anderen europäischen Menschheitsverbrechens reproduzieren: die des Kolonialismus. Für relativierende Vergleiche sind beide zu groß. (Bert Rebhandl, 30.5.2020)