Der wesentliche Grund für den globalen Schaden, den wir angerichtet und nun bitter zu bezahlen haben, ist die Gier. Eat as much as you can, das aus dem Blutrausch und später aus der Massentouristik übernommene Konzept des Büffets und des Halses, den wir nicht vollkriegen können, findet nun endlich wieder einmal im Pop seine vollinhaltliche Entsprechung.
Lady Gaga hat nach sieben langen Jahren wieder ein Popalbum aufgenommen. Es trägt den Titel Chromatica. Zuvor hatte sie, vom Synchrontanzen etwas müde geworden, ein Swingalbum mit Tony Bennett aufgenommen. Auf dem Album Joanne spürte sie anschließend der in den USA neben Hip-Hop dominanten Countrymusik nach. Im auf die Tränendrüsen drückenden Blockbuster A Star Is Born zollte sie schließlich der Ergriffenheitsballade einer Barbra Streisand Tribut.
Treibe alles auf die Spitze
Ihre Vermögensberater freute das alles sehr. In unserer heutigen volatilen Zeit ist es immer gut, mehrere wirtschaftliche Standbeine zu haben. Speziell A Star Is Born, der Reboot eines Reboots aus der Traumfabrik Hollywood, verdeutlicht die Vorgehensweise der Firma Lady Gaga ganz deutlich. Nimm altbewährte Versatzstücke der Popkultur, verdichte sie und treibe alles auf die Spitze.
Ihre nun in der Nachfolge von alten Chartserfolgen wie Paparazzi, Bad Romance oder Poker Face erscheinende Songsammlung Chromatica vertraut auf die totale Überwältigung. Zwar schmeckt alles ähnlich, und alles ist ähnlich fad gewürzt, man kann davon aber locker drei Teller essen. Nur mit dem Jazztanzen gemeinsam mit Lady Gagas für die Videos engagierten 30 besten FreundInnen tut man sich danach schwer.
Die Singles Stupid Love und das gemeinsam mit Gagas jüngerem Nachfolgemodell Ariana Grande eingesungene Duett Rain On Me knattern fröhlich zwischen High-Energy-Disco und ein wenig auffrisiertem House dahin. Free Woman, noch eindeutiger Richtung Housemusik schielend, die man auch Helene Fischer unterjubeln könnte, hat Madonna so ähnlich mit Sicherheit auch schon einmal aufgenommen. Auch die Electropop-Nummer Plastic Doll klingt laut ihrem Titel entsprechend glatt und beliebig.
Was bei Lady Gaga immer schon nervte, bleibt auch auf Chromatica dominant. Der exzessive Einsatz von Autotune-Effekten wird von jenem Geschnalze und Geballere überlagert, dass man seit Jahrhunderten als Beschallung von Autodromen kennt. Teilweise fünf Leute tauchen in den Kompositionscredits auf, darunter etwa auch US-Ballermannkönig Skrillex. Bloß keine Fehler machen!
Bloß keine Fehler machen
Das mit 16 Songs bei bescheidenen Einfällen katastrophal überladene Album hinterlässt einen ähnlichen Beigeschmack wie ein labbriger Langos, der mit Zuckerwatte getoppt wird. Ein wenig ambitionierter geht es zu, wenn in Sour Candy aus Marketinggründen die koreanische K-Pop-Band Blackpink zum Einsatz kommt. Auch dieses House ist auf Electropop und Marschbeats gebaut. Zu denen marschiert Lady Gaga mit zumindest Knoblauchbutter schneidender Stimme im Stechschritt durch das Lied. In diesem Fall aber kann man sich den Refrain wenigstens einen Nachmittag lang merken.
Warum Elton John im der deutschen Band Scooter würdigen Song Sine From Above den Autotune-Kasperl gibt ("When I was young I felt immortal …"), bleibt unklar. Thematisch geht es in Lady Gagas neuen Liedern um die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs, ihre Depression, die Last der Berühmtheit – und die Befreiung durch positive Gefühle und Tanzen. Danke, wir sind jetzt pappsatt. Frage: Was haben wir eigentlich gerade gegessen? Vergessen. (Christian Schachinger, 29.5.2020)