Niki Popper von der TU Wien und Gesundheitsminister Rudolf Anschober bei einer Pressekonferenz am Donnerstag.

Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Die Regierung ist sich sicher, in der Corona-Krise richtig gehandelt zu haben, und sieht ihr Vorgehen auch von Zahlen untermauert – diese wurden am Donnerstag bei einer Pressekonferenz präsentiert.

Doch nicht alle halten dieses Selbstlob für gerechtfertigt. Kritik an der österreichischen Strategie kommt erneut vom Grazer Public-Health-Experten Martin Sprenger, der bis Anfang April selbst Teil des Beraterstabs zum Management der Corona-Pandemie im Sozialministerium war. "Es ist vieles gut gelaufen in Österreich, darauf können wir stolz sein. Es ist aber auch vieles schlecht, manches sogar katastrophal schlecht gelaufen. Das sollten wir beim nächsten Mal besser machen. Nur eine ausgewogene Darstellung hilft uns, gemeinsam zu lernen und uns zu verbessern", sagt Sprenger.

Die Aussage, "die richtigen Maßnahmen seien zur richtigen Zeit" getroffen worden, hält Sprenger für nicht zulässig und kritisiert, dass bei der Pressekonferenz nur "eine Seite der Medaille" präsentiert wurde. Die andere sei der enorme gesundheitliche, psychische, soziale und ökonomische Schaden, der in der Gesellschaft durch die Corona-Maßnahmen entstanden sei.

Eskalation der Angst

Der Public-Health-Experte stößt sich vor allem am Vorgehen der Regierung ab Anfang April: "Der Nutzen des Lockdowns müsste enorm sein, damit die Nutzen-Schaden-Bilanz passt. Eine Eskalation der Angst und weitere Verschärfung der präventiven Maßnahmen standen ab Anfang April nicht mehr in Relation zu dem damit erzielten Nutzen." Ab diesem Zeitpunkt sei klar gewesen, dass der Peak erreicht ist und das Gesundheitssystem nicht mehr an seine Grenzen stoßen werde. Spätestens ab Anfang April hätte die Regierung deeskalieren und alles tun müssen, so Sprenger, um die Schäden an anderen Bereichen im Gesundheitssystem und der Gesellschaft zu minimieren.

Sprenger kritisiert vor allem auch die Strenge einzelner Maßnahmen: "Bewegung im Freien zu untersagen war weder wissensbasiert, noch hat die Zwangsquarantäne das Infektionsgeschehen günstig beeinflusst. Eher ist das Gegenteil der Fall, und die unerwünschten Nebenwirkungen aufgrund des überlangen Lockdowns, vor allem bei Kindern, waren sicher beträchtlich." Studien hätten gezeigt: "Infektionen im Freien muss man fast konstruieren, dass sie passieren können", so Sprenger. In manchen Einrichtungen, etwa in Behindertenwohnheimen, dauere der Lockdown bis heute an. "Was ethisch eine unnötige und massive Verletzung der Menschenrechte und medizinisch eine Katastrophe darstellt", so Sprenger.

Nicht nachvollziehbar

Zum Höhepunkt der Pandemie wurden Freizeitkontakte in Österreich um 90 Prozent reduziert. Wären es nur 50 Prozent gewesen, wäre die Kurve weiter angestiegen, hieß es bei der Pressekonferenz. Sprenger betont, dass Experten schon im März der Meinung waren, eine Reduktion auf 40 Prozent sei ausreichend. Warum es zu den strengen Kontaktbeschränkungen gekommen ist, sei für ihn nicht nachvollziehbar.

"Es ist falsch zu behaupten, dass die Kurve weiter angestiegen wäre. Der Peak hätte sich höchstens um ein paar Tage verschoben", sagt Sprenger. Zwar sei es richtig, dass durch eine Reduktion der Kontakte um 90 Prozent das Infektionsgeschehen deutlich rascher zurückgegangen ist als bei einer Reduktion um 50 Prozent und dass auch das Erkrankungs- und Sterbegeschehen dadurch reduziert wurde, allerdings sei hier ein hoher Preis in Form von Kollateralschäden die Folge gewesen.

Auch das Bewusstsein in der Bevölkerung für eine mögliche Gefahr habe schon viel bewirkt, glaubt Sprenger: "Vor allem die Absage von Großveranstaltungen, die Verringerung der Kontaktzahl schon vor dem Lockdown und verbesserte Hygienemaßnahmen haben das Infektionsgeschehen deutlich verlangsamt", so Sprenger.

Das legt auch die Entwicklung der Reproduktionszahl nahe. Der Wert, der beschreibt, wie viele weitere Menschen eine infizierte Person ansteckt, hatte laut Ages bereits am 13. März seinen Höhepunkt erreicht und sank in der Folge kontinuierlich. Da sich die Auswirkungen der Maßnahmen wegen der Inkubationszeit und anderer Faktoren um zehn bis 14 Tage verzögert in der Statistik niederschlagen, wie auch Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) mehrfach sagte, dürfte dieser starke Rückgang Mitte März auf Verhaltensänderungen zurückzuführen sein, die bereits Anfang März und damit vor den Ausgangsbeschränkungen umgesetzt worden sind.

Hätte man sich dazu entschlossen, sieben Tage später zu reagieren, hätte es laut den Modellrechnungen von Niki Popper, Simulationsexperte der TU Wien, zum Höhepunkt der Pandemie Ende März 40.000 Coronavirus-Infizierte gegeben, hieß es bei der Pressekonferenz. Sprenger hält diese Zahlen für "totale Spekulation", vor allem, weil noch zu wenig über das Verhalten des Virus bekannt sei. Möglicherweise wäre die Kurve auch ohne Maßnahmen wieder abgeflacht, glaubt er.

Man wisse heute, dass ein Großteil der Infektionen von wenigen Menschen in ganz bestimmten Kontexten erfolge, sagt Sprenger und führt als Beispiele die Schweiz und Schweden an. In beiden Ländern gab es nie Ausgangssperren, trotzdem ist die Zahl der offiziell Infizierten in der Schweiz (8,6 Millionen Einwohner) nicht höher als 30.000 gestiegen, in Schweden (10,2 Millionen Einwohner) bis jetzt nicht höher als 40.000.

"Zu einer Überforderung des österreichischen Gesundheitssystems wäre es auch ohne Lockdown nicht gekommen", sagt Sprenger – allerdings sehr wohl zu einem höheren Erkrankungs- und Sterbegeschehen. Dennoch halte er es für unseriös, jetzt noch immer von einer möglichen Überforderung des Gesundheitssystems zu sprechen.

Kein "Urlaub für Viren"

Langsam sei es an der Zeit, zur Tagesordnung überzugehen, fordert Sprenger und kritisiert auch das aktuelle Vorgehen und die Kommunikation der Regierung: "Rund 100 Patienten sind aktuell mit Covid-19 im Spital, aber Zehntausende mit anderen Erkrankungen – darum müssen wir uns jetzt wieder kümmern." Denn nicht nur das Coronavirus sei "nicht auf Urlaub gefahren", wie Anschober betonte, "auch viele andere, zum Teil ebenfalls sehr ernst zu nehmende Gesundheitsrisiken, die zum Tod führen, fahren niemals auf Urlaub", so Sprenger.

Zudem müsse die Kommunikation wieder weniger krankheitsbezogen werden und sich mehr auf Prävention konzentrieren: "Das ist ein Zugang zur Vermittlung von Gesundheitskompetenz, den wir seit langer Zeit fordern." Wie derzeit Pressekonferenzen abgehalten würden, sei das Gegenteil davon. (Bernadette Redl, 31.5.2020)