Kann man hören, dass etwas fehlt? Und wenn ja, welches Geräusch macht die Abwesenheit? Vielleicht klingt sie wie die Motorsäge, deren Kreischen auch am anderen Ende eines Ortes noch wahrnehmbar ist. Vielleicht wie der Sound der eigenen Schritte, der von den Wänden zurückprallt, weil die vielen Körper fehlen, die den Schall normalerweise dämpfen. Aber eventuell spielt einem auch das Hirn einen Streich. Und man ist nur so aufmerksam, weil man weiß, dass ohne Corona hier in Hallstatt täglich tausende Freizeitschuhe über den Asphalt trippeln würden.

Hallstatt, ein Ort mit 750 Einwohnern im Salzkammergut, ist auf der ganzen Welt bekannt. Im Ausland kennt man ihn für seine pittoresken Häuser, die sich zwischen den Salzberg und den Hallstätter See zwängen. Im Inland kennt man vor allem die Bilder von Massen an chinesischen Touristen, die hier auf ihrer Europatour einen fixen Stopp einlegen. Beziehungsweise einlegten. Denn wie so vieles, was selbstverständlich war, ist auch das jetzt erst mal vorbei. Dank Corona gibt es aktuell keine Europatourneen asiatischer Touristen mehr, nicht mal Hotelgäste. Und Hallstatt, Symbol des "Overtourism", ist wieder zu sich selbst zusammengeschrumpft.

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Hallstatt im August 2019.
Foto: Reuters/Niesner

Der Autor dieses Textes hat im Mai zwei Wochen in dem Ort verbracht und ihn so gesehen, wie ihn kaum ein Tourist sieht. Er ist nachts durch die leeren Straßen spaziert. Er hat miterlebt, wie die Gastronomie wieder zum Leben erwachte und die Besucher in den Ort zurückkehrten. Er ist Boot gefahren, hat Fisch gegessen, mit Gastronomen, Politikern und Einwohnern gesprochen. Und er hat eine Menge gelernt, über Tourismus im Allgemeinen und Hallstatt im Speziellen.

"Alle haben wir geschimpft, und jetzt versuchen wir nur noch den Kopf über Wasser zu halten", sagt der Kellner in dem Gasthof in Markplatznähe, als er die Forelle auf den Tisch stellt. Es ist Mitte Mai, das erste Wochenende, an dem die Gasthäuser wieder geöffnet haben dürfen. Und wie überall mühen sich Wirte mit den Regelungen rund um Maskenpflicht und Mindestabstand.

Man kann an diesem Wochenende die vorsichtige Erleichterung spüren, die durch Hallstatt geht. Wie vermutlich durch alle Tourismusregionen Österreichs. In der Woche zuvor war das Bild für den gewohnten Großstädter fast gespenstisch: Nach 20 Uhr waren die Gassen leergefegt, nur in jedem zweiten bis dritten Haus brannte Licht. Um zu verstehen, wie seltsam das ist, helfen Zahlen: An einem normalen, Corona-freien Tag würden in dem Ort, in dem weniger Menschen wohnen als in einem Wiener Gemeindebau, 58 Reisebusse halten und 397 Menschen übernachten.

Hallstatt, Mai 2020
Foto: Niko Ostermann

Das ist kein Zufall, denn Hallstatt ist wunderschön. "Man kann den Ort nur vom Wasser aus begreifen", sagt Silke Seemann vom "Hallstatt Hideaway", die im Ort gehobene Privatapartments vermietet. Jahrhundertelang war Hallstatt nur per Boot erreichbar, die berühmte Seestraße, auf der sich der Tourismus konzentriert, gibt es erst seit 1890. Und noch heute ist der Blick vom Wasser aus ein Erlebnis: Die alten Häuser, ein FIickwerk aus Holz und Stein, wurden über die Jahre immer wieder erweitert. Die Bauordnung kennt hier aufgrund des beschränkten Platzangebots keinen Mindestabstand, und so sind die Häuser und ihre Anbauten ineinander verwoben, als sei der Ort ein lebender, sich über die Zeit erweiternder Organismus.

Leichte Beruhigung

Am Montag nach dem ersten Gastrowochenende wirkt Josef Zauner ein wenig beruhigt. Der 52-Jährige führt den "Seewirt" in dritter Generation. Freitag und Samstag seien schwache Tage gewesen, aber am Sonntag waren plötzlich so viele Menschen da, dass er mit dem vorsichtig kalkulierten Personal kaum nachgekommen sei. Wie alle Gastronomen hofft Zauner, der sein Haus nach einem Murenabgang vor sieben Jahren teuer renovieren musste, dass zumindest der Restaurantbetrieb wieder anläuft. Der Hotelbetrieb sei noch immer von Stornierungen geprägt. "Die Chinesen fehlen uns", sagt Zauner. Sie seien nette Gäste. Aber es seien eben auch sehr, sehr viele gewesen.

Es waren nicht nur viele, sondern es ging auch sehr schnell. Hielten 2015 noch 10.301 Busse in Hallstatt, waren es 2019 bereits 21.254. Im selben Zeitraum stieg die Zahl der Nächtigungen nur um knapp 20 Prozent. Und dann sind da auch noch die Vorwürfe, dass nicht alle im gleichen Ausmaß von diesen Kurzzeit-Gästen profitierten. Die Busreisenden würden am Parkplatz rausspringen, durch die Stadt zum Foto-Point und wieder zurücklaufen. Dafür braucht man 43 Minuten, da geht sich bei einer Stunde Aufenthalt wenig Wertschöpfung aus. Man hört solche Geschichten oft in Hallstatt, genauso wie die Story von dem chinesischen Gast, der plötzlich auf dem privaten Klo einer Familie saß. Manches mag Legende sein. Aber es illustriert, wie sehr sich das Leben der Hallstätter verändert hat.

Wie so viele Geschichten hat auch diese zwei Seiten, wenn nicht mehr. Andreas Scheutz ist ein freundlicher Mann, der Besucher in seinem Amtszimmer empfängt. Scheutz ist seit elf Jahren Bürgermeister, die explosionsartige Vermehrung des Tagestouristen, die Entwicklung vom Saison- zum Ganzjahresgeschäft, das alles fällt in seine Amtszeit. "Uns ist das eher passiert", sagt er. Es seien mit jedem Jahr mehr Gäste geworden.

Der Schock und das Ringen

Nicht alle im Ort sehen das so: Hallstatt habe die Entwicklung durchaus forciert. Trotzdem ist Scheutz keiner dieser Bürgermeister aus Filmen, die durch ihre Gier alle ins Verderben stürzen. Er sieht die Probleme, aber auch die guten Seiten. Die Gemeinde hat von den Zusatzeinnahmen aus dem Parkleitsystem und der öffentlichen Toilette profitiert, ein neues Ärztezentrum gebaut, es gibt 30 günstige Gemeindewohnungen. Scheutz’ Perspektive ist verständlich, so wie man in Hallstatt irgendwie für alle Verständnis hat.

In vielen Gesprächen mit Einheimischen spürt man das Ringen: mit den Touristen, mit den Notwendigkeiten, mit sich selbst. Den Schock über die ausbleibenden Gäste, aber auch die Freude, dass es im leeren Ort plötzlich wieder so etwas wie ein Dorfleben gab. Am späten Nachmittag konnte man Einwohner am Marktplatz sehen, die Bänke zusammengeschoben hatten und bei einem Glas Wein Gespräch führten. Wie soll das gehen zwischen tausenden Besuchern in Freizeitschuhen?

In den letzten Wochen gehörte Hallstatt plötzlich wieder den Hallstättern, kehrte so etwas wie ein Dorfleben in den Ort zurück.
Foto: Niko Ostermann

Mit Anfang Mai trat in Hallstatt eine lange geplante Regelung in Kraft, mit fixen Reisebus-Slots, für die man sich anmelden musste. Inklusive Obergrenze und einem Mindestaufenthalt von zwei Stunden und zwanzig Minuten. Corona-bedingt ist bisher noch kein einziger Bus gekommen. "Wir wollen nicht jammern", sagt Scheutz zum Abschied. Weder über die Gäste noch über ihr Fortbleiben. "Aber wir leben von den Besuchern."

Es wäre verlockend, die Geschichte von Hallstatt als eine Parabel auf Overtourism, der sich selbst frisst, zu erzählen. Mit Geistern, die man rief, dann nicht mehr loswurde und die plötzlich weiter weg sind als gewünscht. Aber das wäre zu einfach. Es gab sicher auch hier Gier, Missgunst und Hybris, wie überall. Aber letztlich hat Hallstatt Pech gehabt, so wie die ganze Welt Pech gehabt hat, und das ist jetzt eben so.

Ein gigantischer Ballon

Ab Mitte des Monats kehren die Touristen langsam in den Ort zurück, wie lang erwarteter Regen, der einen ausgetrockneten Boden wässert. Ab acht Uhr morgens tröpfeln sie die Seelände entlang, zwischen den Wohnhäusern hindurch in Richtung des historischen Zentrums. Sie machen Selfies, kaufen Salz, essen Schnitzel. Am späten Nachmittag leert sich der Ort, bis die Straßen wieder so verlassen sind wie am Morgen. Als wäre Hallstatt ein gigantischer Ballon, der sich temporär aufbläst, nur um am Abend die Luft wieder entweichen zu lassen.

Man hört Italienisch, Tschechisch, vereinzeltes Koreanisch. Aber es sind vor allem Besucher aus Österreich, die durch die Gassen schlendern, auf den Hotelterrassen Kaffee trinken und in der Schlange vor dem Eisgeschäft die Seestraße blockieren. Viele kommen aus der Gegend, tragen Tracht, die so angegossen sitzt, dass sie das sicher nicht zum ersten Mal tun. "Wir wollten uns das hier schon lange anschauen", sagt eine Familie, die aus Wels angereist ist. "Jetzt hat es sich halt angeboten." Wels ist knapp 70 Minuten mit dem Auto entfernt, daran wird es bislang eher nicht gelegen haben. Die Bilder von den Massen an Touristen, die medial gerne transportiert wurden, haben auch andere Gäste abgeschreckt.

Verena Lobisser, Bräuhaus-Wirtin: "Wir sollten nachdenken, wie Tourismus hier künftig aussehen soll."
Foto: Niko Ostermann

Man sollte nicht den Fehler machen, die Situation zu romantisieren. Menschen haben Geld, haben ihre Jobs verloren. Aber Corona könnte trotzdem auch eine Stunde null für den Tourismus sein, in Hallstatt wie anderswo. "Die Pause hat uns gutgetan", sagt Verena Lobisser. Die Wirtin führt den Bräugasthof direkt am See, wie viele hier in dritter Generation. "Es ist eine Chance für uns, darüber nachzudenken, welche Form von Tourismus wir hier im Ort anbieten wollen."

Wie es weitergeht

Hallstatt, Mai 2020.
Foto: Niko Ostermann

Die Gastronomie ist da, die Tagesgäste auch. Mit der Öffnung der Hotels Ende Mai wird das touristische Leben in Hallstatt noch eine Stufe hochgefahren, wie überall im Land. Wie weit rauf, das weiß noch niemand genau. Österreichs Regierung hat eine 40 Millionen Euro teure Tourismuskampagne aufgesetzt, laut Umfrage will knapp ein Drittel der Österreicher Urlaub im eigenen Land machen. Trotzdem sagen alle, mit denen man redet: 2020 sei das Jahr des Überlebens, ab 2021 könnte es wieder gut werden. Den Hoteliers fehlt das internationale Publikum, das sei mit heimischen Gästen nicht vollständig zu ersetzen. Die Hoffnungen ruhen auf den Grenzöffnungen am 15. Juni, vor allem auf den Deutschen. Das sei elementar wichtig für den Tourismus in Österreich, dessen Bedeutung zwar überregional manchmal überschätzt wird, von dem in manchen Gegenden aber so viel abhängt.

In Hallstatt ist die Frage nicht, ob der Ort den Tourismus braucht, das hat sich wohl spätestens mit Corona entschieden. Sondern wie man ihn so gestalten kann, dass der Ort lebenswert bleibt. "Viele hier werden umdenken müssen, vor allem die Betriebe, die auf Massentourismus gesetzt haben", sagt Lobisser. Die Krise als Chance für einen etwas sanfteren Tourismus, der einen besseren Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der Bewohner und der Besucher findet. Denn in Hallstatt hoffen die meisten Gesprächspartner trotzdem, dass die Busse mit den Touristen aus Asien eines Tages zurückkehren. Aber eben bitte mindestens für zwei Stunden und zwanzig Minuten. (Jonas Vogt, 31.5.2020)