Es war einmal ein Bundeskanzler, der verfügte über fast uneingeschränkte Macht, die Medien liebten ihn, und er hatte ein gutes Gespür für die Stimmung im Volk, weil er mit dessen gewählten Vertretern einen aufmerksamen und respektvollen Umgang pflegte, auch wenn von diesen knapp die Hälfte meist anderer Meinung waren als der Kanzler.

Klingt wie ein Märchen, ist aber keines. Die Rede ist von Bruno Kreisky, der 1971, 1975 und 1979 die absolute Parlamentsmehrheit für seine Sozialistische Partei errungen hatte. Und ganz märchenhaft waren die Zustände unter Kreisky natürlich auch nicht: In der XIII. Gesetzgebungsperiode (1971–75) wurden kein einziger der 86 selbstständigen Gesetzgebungsanträge der damaligen ÖVP-FPÖ-Opposition beschlossen. In der XI. Periode, der ÖVP-Alleinregierung Josef Klaus von 1966 bis 1970, wurden immerhin 13 Oppositionsanträge Gesetz.

Der SPÖ-Abgeordnete Jan Krainer und Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP).
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Aber sowohl Klaus als auch Kreisky hatten Respekt vor dem Parlament: Im Nationalrats- und dem weniger beachteten Bundesratsplenum, in den Ausschüssen und Unterausschüssen und sogar innerhalb der einzelnen Fraktionen wurde leidenschaftlich und kontroversiell diskutiert. Weder Kreisky noch Klaus und dessen Nachfolger in der Volkspartei hatten immer ihre gesamte Partei hinter sich; um Lösungen und die dafür nötige parlamentarische Zustimmung musste oft auch innerparteilich hart gerungen werden. Heraus kamen Beschlüsse, die – wiewohl ideologisch gefärbt – sachlich argumentierbar waren und oft im überparteilichen Konsens beschlossen wurden.

Bärendienst

Man hat das später oft als "Packelei" denunziert, genauer: Jörg Haider hat das ab den 1980er-Jahren getan – und damit dem Parlamentarismus einen Bärendienst erwiesen. Mit Haiders FPÖ wollte die SPÖ nicht zusammenarbeiten, und auch die ÖVP hat sich jahrelang geziert. In der Folge sind die Ministerien und vor allem die Ministerbüros immer mächtiger geworden: Nach deren Vorgaben haben die Legistikabteilungen der Ressorts Gesetzesvorlagen erstellt, die öffentlich diskutiert und dann von den Spitzen der jeweiligen Koalitionsparteien kurz vor Beschlussfassung noch einmal überarbeitet wurden. Was dem p. t. Gesetzgeber dann mit oft weitreichenden, nun tatsächlich nur im engsten Kreis der Mehrheitsparteien ausgemachten Abänderungsanträgen zur Beschlussfassung vorgelegt wurde, konnten selbst die damit befassten Parlamentarier kaum verstehen.

"Hände falten, Gosch’n halten" ist zwar wohl nie so befohlen, aber nicht nur innerhalb des ÖVP-Klubs über weite Strecken eingehalten worden. Die Abgeordneten der jeweiligen Koalitionsparteien haben am Ende wenig zu melden, die der Opposition noch weniger. Auch den schludrigen Abänderungsantrag zum Budget hätten wohl alle brav abgenickt, hätte nicht der SPÖ-Abgeordnete Jan Krainer den immerhin mehrere Zehnerpotenzen großen Fehler darin entdeckt.

Daraus ließe sich lernen, dass man dem Hohen Haus mehr Informationen, mehr Zeit und wohl auch mehr Legistikexperten geben müsste, damit dort über Gesetze entschieden wird, wo das von der Verfassung vorgesehen ist.

Dazu aber müssten die Klubchefs der Koalitionsparteien sich von ihren Parteikollegen in der Regierung emanzipieren – und Kurz und Co zum vor Jahrzehnten üblichen Respekt der Regierung vor dem Parlament zurückfinden. Aber das wird wohl wirklich ein Märchen bleiben. (Conrad Seidl, 29.5.2020)