Laut Times of Israel haben einige EU-Regierungschefs Benjamin Netanjahu schriftlich "angefleht", nicht, wie im Regierungsprogramm in Aussicht gestellt, im Juli mit Annexionen im Westjordanland zu beginnen. Es gibt bisher keinen Hinweis darauf, dass sie erhört werden könnten: Am Montag sagte der israelische Premier, er werde die "historische Gelegenheit" nicht verstreichen lassen. Die schenkt ihm US-Präsident Donald Trump in seinem Nahostplan. Und es stimmt ja, wer weiß tatsächlich, ob er die Wiederwahl schafft.

Die einen flehen, die anderen warnen, wie der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell anlässlich der israelischen Regierungserklärung, nachdem Ungarn und Österreich eine gemeinsame Stellungnahme der EU-Außenminister verhindert hatten. Während sich Ungarn am Versuch, eine gemeinsame Position zu finden, nicht einmal beteiligte, brachte Österreich in letzter Minute Veränderungsanträge ein, die den Elefant im Raum – die Annexion – nicht direkt ansprachen. So wurde letztlich nichts aus der Erklärung.

Kurz (33) macht aus seiner Bewunderung für Netanjahu (70) kein Hehl: Und kleine politische Geschenke erhalten die Freundschaft. (Ein Bild aus Präcoronazeiten)
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Man wolle Israel nicht "vorverurteilen", so die Begründung aus Wien. Sehr aufschlussreich ist dieses Argument jedoch nicht: Ist es eine indirekte Zusage an die EU, mit einer "Verurteilung" – manche in der EU wollen sogar Sanktionen – mitzugehen, wenn Israel wirklich zu annektieren beginnt? Fleht Bundeskanzler Sebastian Kurz, der seinen guten Draht zu Netanjahu gerne öffentlich betont, vielleicht im Geheimen?

Wertvoller Partner

Oder ist Österreich dabei, seine Position zum Nahostkonflikt zu ändern und sich die Ansicht der israelischen Regierung zu eigen zu machen? Worauf diese natürlich hofft: Österreich ist zwar kein wichtiges Land, aber eine Bresche in der EU, geschlagen von einem westeuropäischen Staat, das wäre schon durchaus wertvoll.

Dass Österreich innerhalb der EU einen neuen Kurs fährt, zeichnet sich nicht erst seit der israelischen Regierungserklärung ab. Oder ist es nur ein neuer Ton, ein neuer Stil, wie es das Außenministerium beschreibt: nicht in die üblichen besserwisserischen Reflexe verfallen, die ohnehin nichts bringen, und das am Tag der Angelobung einer Regierung nach einer langen Krise. Die neue Milde wird von Beobachtern meist jedoch direkt mit der Person Kurz und dessen engen Beziehung zu Netanjahu in Verbindung gebracht.

Dass Kurz die Sicherheit Israels zur österreichischen Staatsräson erklärt hat, ist angesichts der österreichischen Naziverbrechen der richtige Schritt. Aber was impliziert das? Für ihn scheint es derzeit zu bedeuten, alles zu unterlassen, was Netanjahu – immerhin eine recht umstrittene Figur der israelischen Zeitgeschichte – ärgern könnte. Zweimal war Kurz als Bundeskanzler in Israel, beide Male fuhr er nicht, wie üblich, nach Ramallah, um die Wichtigkeit des Friedensprozesses mit den Palästinensern zu betonen. Und bei der Inauguration der nach Jerusalem verlegten US-Botschaft war der österreichische Botschafter dabei, als einziger westeuropäischer. Der damalige österreichische Missionschef in Tel Aviv, Martin Weiss, ist übrigens nun Botschafter in Washington.

"Kein Positionswechsel Österreichs"

Offiziell ist die rechtliche Position zur Frage der Palästinensergebiete jedoch unverändert: Österreich bleibt – diese Auskunft aus dem Büro des Außenministers nach Anfrage des STANDARD kommt prompt – der Rechtsmeinung, dass auf das 1967 durch Israel eroberte Westjordanland die 4. Genfer Konvention anwendbar ist. Das macht Israel zum Besetzer des Gebiets, für den völkerrechtlich gewisse Regeln gelten. An der österreichischen Position zum Thema Annexion habe sich nichts geändert, sagt Außenminister Alexander Schallenberg am Freitag zum STANDARD, und das werde auch den Israelis so gesagt. Das Völkerrecht sei in dieser Frage klar.

Israel sieht das Thema, aufgebaut auf einer langen Argumentationskette, anders: Das Westjordanland sei "umstrittenes" Territorium, das vor 1967 kein souveränes Staatsgebiet war und deshalb jetzt auch gar nicht annektiert werden könne. Das ist der Grund, warum von israelischer Seite auch stets nur von "Ausweitung der israelischen Souveränität" die Rede ist und nicht von Annexion.

Die israelische Argumentation – oder auch jene der anderen Seite – im Detail nachzuzeichnen, dafür fehlt hier der Platz. Die Frage nach dem Status ist in der Tat sehr komplex, was sich früher, vor der Errichtung einer palästinensischen Verwaltung in den 1990ern, etwa in staatsbürgerschaftliche Fragen Palästinenser aus dem Gebiet betreffend niederschlug. Zur Erinnerung die Geschichte des Westjordanlands: Osmanisches Reich; nach dem Ersten Weltkrieg britisches Mandatsgebiet; 1947 Uno-Teilungsplan, der von den Arabern abgelehnt wird; Staatsgründung Israels, Krieg, jordanische Annexion, nur von wenigen (darunter Großbritannien) anerkannt; israelische Eroberung im Sechstagekrieg.

Arbeitsgruppe Wasser

Hatte sich Kanzler Bruno Kreisky weit aus dem Fenster gelehnt, um den Palästinensern politische Anerkennung zu verschaffen, so schlief das österreichische Interesse am Nahen Osten nach seinem Abgang ein. Aber als nach dem Golfkrieg 1991 Washington die nahöstlichen Kontrahenten in die erste große Nahostkonferenz in Madrid zwang, übernahm Österreich immerhin die Leitung der Arbeitsgruppe Wasser (Österreich war damals im Uno-Sicherheitsrat). 1993 wurde Oslo – nicht Wien, was möglich gewesen wäre – zum Austragungsort der ersten echten israelisch-palästinensischen Friedensgespräche. In den 1990ern beschäftigten uns dann der EU-Beitritt und die Kriege in Ex-Jugoslawien: Es kam die Zeit, in der Österreich sich etwa bei Abstimmungen in der Uno-Vollversammlung daran orientierte, wo die europäische Mehrheit lag. Nur nicht auffallen.

2012 war Österreich jedoch unter jenen Staaten, die in der Vollversammlung für die Anerkennung Palästinas als Beobachterstaat stimmten, während sich die meisten EU-Staaten enthielten. Die Konsequenzen dieser Anerkennung für "Palästina", etwa ihren Status in internationalen Organisationen, gefährdet die Palästinenserführung übrigens soeben selbst, wenn sie das Ende der Oslo-Verträge – und damit im Grunde der Selbstverwaltung – verkündet.

Was genau Sebastian Kurz antreibt und wohin die Reise führen soll, ist nicht ganz klar. Solange die FPÖ in der Regierung saß, war die Intention, Österreich als verlässlichen Partner Israels über die Schmerzgrenze heraus darzustellen, leicht zu verstehen. Aber nun scheint eine Frustration programmiert, es dürfte so sein, dass Kurz' israelischen Freunde mehr von ihm erwarten, als Österreich – zumindest gemessen an den Aussagen aus dem Außenministerium – zu geben bereit ist.

Dem Kanzler scheint jedoch nicht nur die Anerkennung Netanjahus – dem er auch eine Rolle bei der Errettung Österreichs vor dem Coronavirus zuspricht – sehr viel wert zu sein, sondern auch die Streicheleinheiten Trumps. Aber auch die gibt es nicht gratis. "He does a fantastic job", sagt Trump über Kurz, den er, wenn nicht Corona dazwischengekommen wäre, im März zum zweiten Mal im Weißen Haus empfangen hätte. Kurz hätte den Besuch mit einem Auftritt bei den Israel-Lobbyisten der AIPAC (American Israel Public Affairs Committee) verbunden. Zuvor musste Außenminister Alexander Schallenberg bei einem Besuch beim US-Amtskollegen, Mike Pompeo, den Trump-Nahostplan im Ansatz loben – man muss ja nicht alles sofort heruntermachen, ist auch hier die offizielle Devise. Für rollende Augen in der EU sorgte aber vor allem ein nur von Ungarn und Österreich unterzeichnetes Schreiben an den EU-Außenpolitikbeauftragten Borrell mit der Aufforderung, Trumps Schwiegersohn und Nahostberater Jared Kushner einzuladen, die EU-Außenminister zu briefen.

Orbáns Anti-Soros-Kampagne

Nicht alles, was aus Ungarn kommt, ist automatisch falsch, so die Antwort. Dieser österreichisch-ungarische Gleichklang ist dennoch manchmal irritierend: Während der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, am Mittwoch im Ö1-Morgenjournal Anti-Soros-Verschwörungstheorien als prototypisch antisemitisch bezeichnet, lässt ja der ungarische Premier Viktor Orbán genau solche Kampagnen gegen den jüdischen Investor und Philanthropen George Soros plakatieren. Aber auch Netanjahu macht bei der Mobilisierung gegen Soros gerne mit.

Im österreichischen Regierungsprogramm ist der Kampf gegen Antisemitismus verankert – auch jener gegen Antizionismus, "in allen Formen", wie der Kanzler oft per Twitter mitteilt. Hier begibt er sich auf dünnes Eis. Denn wenn Antizionismus bedeutet, dass dem Staat Israel eine sichere Existenz negiert wird, und wenn Israel, wie es das tut, die Annexionen im Westjordanland als für seine Sicherheit unabdingbar bezeichnet: Dann müsste die österreichische Regierung sie nach ihrem eigenen Verständnis wohl anerkennen.

Sicherheit für Israel wird nicht durch Annexion, sondern mit Gerechtigkeit für die Palästinenser kommen, zeigt sich hingegen der israelische Ex-Diplomat Ilan Baruch im Gespräch mit dem STANDARD überzeugt. Er und seine "Policy Working Group", die für die Zweistaatenlösung lobbyiert, haben Kurz einen Brief geschrieben: "Wir sehen keine ,Vorverurteilung‘ darin, wenn man an Israel die gleichen Maßstäbe anlegt wie an den Rest der westlichen Welt. Im Gegenteil, genau weil Israel zur Familie der fortschrittlichen Nationen gehört, würde es die nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte internationale Ordnung unterminieren, wenn eine Annexion des Westjordanlands widerspruchslos hingenommen würde." (Gudrun Harrer, 30.5.2020)