Extrovertierte Persönlichkeiten leiden besonders unter dem Verlust realer Beziehungen, sagt Psychotherapeutin Monika Spiegel. Depressive Symptome sind in der Gesamtbevölkerung in den vergangenen Wochen massiv gestiegen.

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Jetzt merken wir, wie sehr wir echte Beziehungen brauchen", fasst Arbeitspsychologe Johann Beran das Stimmungsbild zusammen – nach neun Wochen erzwungenem Homeoffice, erzwungener Distanz zu lieben oder weniger lieben Kollegen. So wie viele andere seiner Zunft ist er aktuell damit beschäftigt, das Stimmungsbild in Unternehmen zu erheben und auf Basis von Evaluation die Zukunft der Arbeitsordnung zu planen. Was wünschen sich die Leute jetzt?

Überwiegend, das bestätigen auch viele Personalexperten, eine frei gewählte Mischung aus Homeoffice- und Bürotagen. Es gebe keine oder kaum Belegschaften, die alle für immer weiter zu Hause arbeiten wollen.

Warum ist das so, da Homeoffice doch auch Freiheiten gewährt? Kein Chef schaut über die Schulter, kein Dresscode zwickt und zwackt, die Pausen wähle ich selbst, und beim Videomeeting baue ich eine Fassade auf. Aber das Wichtigste fehlt: die menschliche Beziehung. Und das tut uns Menschen nicht gut.

Zu wenig Oxytocin

Psychologe Beran greift zwecks Erklärung auf die Anthropologie zurück: "Nähe und gute Beziehungen waren in der Gruppe immer Garant für das Überleben. Bei Primaten, beim Menschen besonders, ist der Frontallappen als Sitz der Kontrolle, aber auch der Freude und Verbundenheit, stark ausgeprägt." Wir sind nun einmal soziale Wesen. Dafür sorge unser Gehirnstoffwechsel. Dagegen ist nicht anzukommen. Wenn wir in Resonanz und Beziehung zu anderen Menschen sind, schütten wir das Hormon Oxytocin aus, ein zentraler Gegenpol zu Stresshormonen, etwa dem Adrenalin.

Aus der Balance geworfen

Fehlt das Oxytocin, sind wir schneller, länger, tiefer im negativen Stress. Auch der Dopamin- und Serotoninspiegel (beide sorgen für Wohlgefühl und Entspanntheit) werden negativ beeinflusst. Aggression nimmt zu, Depressionen schleichen sich ein.

Was solcherart in Gang gekommen ist, belegt aktuell eine repräsentative Umfrage der Donau-Uni Krems, wonach depressive Symptome, Angstsymptome und Schlafstörungen in den vergangenen Wochen massiv zugenommen haben. Depressionen haben sich etwa auf 20 Prozent Betroffene in der Bevölkerung verfünffacht.

Wir merken es ja auch irgendwie. Wir sind nach den Isolationswochen im Homeoffice müde, angespannt, leicht genervt und schnell gereizt. Eine Abwärtsspirale wegen der so dringend ersehnten Beziehung zu anderen Menschen. Eigentlich ist es, den Erkenntnissen der Hirnforschung folgend, noch schlimmer: Wir werden andere. Wie? "Ein unausgeglichener Hormon- und Neurotransmitterhaushalt im Gehirn ändert alle laufenden Prozesse und Wahrnehmungen, alle Verrechnungen und Reaktionen. Nur merken wir das so nicht, wir haben immer ein Gehirn im Jetzt", so Beran.

Zu wenige Signale und echte Mimik

"Wir kennen uns mit den anderen aber auch nicht mehr aus", fasst Psychologin und Beraterin Elisabeth Pechmann zusammen. Wenn alles virtuell passiert im Miteinander, dann fehlen "unserem Sensorik-Hirn die meisten Hinweise, die wir sonst automatisch in Millisekunden verarbeiten, um situative Einschätzungen treffen zu können und unser Verhalten anzupassen". Flache Pixelgesichter, Gesicht und Schulterpartie im Virtual Office, das reiche Menschen nicht für ein Miteinander. "Da ruckelt unsere Verhaltensprogrammierung sehr heftig", so Pechmann. Also wieder: Stress! Ein Psychophysiologischer Dauernotbetrieb, den niemand langfristig gut aushalten könne. Ein Daumen-hoch-Emoji, neben dem Screen reingechattet, reiche nicht.

Obwohl, wirft Monika Spiegel, Psychotherapeutin und Institutsleiterin an der Sigmund-Freud-Privatuniversität ein, spiele da auch die Persönlichkeitstypologie eine große Rolle. "Dem Extrovertierten fiel es sehr schwer, im Homeoffice zu sitzen. Die tägliche Präsentationsbühne ist abhandengekommen. Diese Menschen empfinden es wie eine Strafe, von zu Hause aus zu arbeiten, keine realen Kontakte in der Firma zu haben. Sie fühlen sich gefangen und leiden ungemein mehr als Introvertierte, für die soziale Kontakte nicht so wichtig sind." Spiegel attestiert aktuell eine "weltweit hohe einmalige Psychodynamik", auch in den Privathaushalten, wo plötzlich neurotische, zwanghafte, narzisstische, histrionische Persönlichkeitsaspekte aus dem Berufsleben im Wohnzimmer kollidieren. Beispielsweise ein neurotischer Typ, der sich verausgabt, Vollgas gibt, und ein Zwanghafter, der sich überall zurückhält und für den es nur ein einziges Richtig und Falsch gibt, der Disziplin und Ordnung benötigt. Spiegel: "Da fliegen die Fetzen."

Einsame Gefangene

Das durch isoliertes Arbeiten aufgetane Feld der neuen Einsamkeit hat Spiegel noch nicht bearbeitet – aber auch diese ist eine Folge der vergangenen Wochen. Berater arbeiten sich allerdings seit Wochen in ihren Newslettern zum Thema der nötigen Empathie und des Beziehungsmanagements für Führungskräfte ab. Tatsächlich gebe es aber mehr "Menschenverwaltungskräfte als Führungskräfte", notiert Psychologe Beran. Selbst unter Druck könne sich die Fähigkeit, Beziehung zum Team aufzubauen, kaum entwickeln. Klick, klick, und weiter.

Dazu wird sich jetzt, wo separierte Teams in Etappen zeitverschoben in Büros zurückkehren und andere Kolleginnen und Kollegen im Homeoffice bleiben, erfahrungsgemäß ein neuer Machtkampf entwickeln: Wer ist wichtig? Wer wird übersehen? Wie soll Karriere von zu Hause aus, abgeschnitten von allen informellen Machtdynamiken, gehen? Übersehen werden wohl eher die, die nicht sichtbar sind.

Zurück zum Wunsch nach dem Hybrid zwischen Büro und Homeoffice. Auch da steht zähes Ringen bevor. Offiziell sagt es niemand, aber aus Gesprächen wird deutlich: Unternehmen werden kaum Büroflächen zahlen und freihalten, damit ihre Mitarbeiter nach Gusto wählen können zwischen Office und Homeoffice. (Karin Bauer, 31.5.2020)