Städter glauben, sie brauchen das Land nicht. Im Gastkommentar erklärt Kulturgeograf Werner Bätzing, warum sie irren.

Karikatur: Michael Murschetz

Zu Beginn der Corona-Krise wurde die Stadt als Dreh- und Angelpunkt globaler Vernetzungen plötzlich als bedrohlich erlebt, während das Land als Rückzugs- und Selbstversorgungsort aufgewertet wurde. Mit der aktuellen Abschwächung dieser Pandemie verblasst diese Wahrnehmung wieder, und die übliche Sichtweise – in der Stadt findet das wahre Leben statt, das Land ist von Dumpfheit geprägt – gewinnt erneut die Oberhand.

Diese Sichtweise geht davon aus, dass sich in der spezialisierten und weltweit vernetzten Stadt das innovative Wirtschaften und alle kulturellen und sozialen Fortschritte konzentrieren, während das wenig arbeitsteilige und global kaum vernetzte Land große wirtschaftliche Probleme besitzt und das Leben nur eine mangelhafte Variante des städtischen Lebens darstellt.

"Teillebensraum" Dorf

Deshalb wurde das Land in ganz Europa von der Politik seit den 1960er-Jahren nach dem Vorbild der Stadt tiefgreifend umgestaltet: Die kleinbetrieblich-bäuerliche Landwirtschaft wurde von agro-industriellen Großbetrieben verdrängt, die monotone Agrarwüsten hervorbringen. Dank des Straßenbaus sind große Teile des Landes inzwischen gut erreichbar, sodass direkt an den Schnellstraßen viele Gewerbegebiete entstehen, die große Flächen verbrauchen und Betriebe in den Ortskernen in den Ruin treiben. Zahlreiche dezentrale Infrastrukturen und Wirtschaftstätigkeiten wie Dorfladen, Bäcker, Fleischer, Gasthof, Handwerker, Schule, Verwaltung oder Arzt sind verschwunden und konzentrieren sich nun in Mittelpunktsiedlungen und Städten. Und sehr viele Dörfer besitzen am Rand größere Neubaugebiete, in denen man heute ähnlich wie am Stadtrand wohnt.

Alle diese Veränderungen haben dazu geführt, dass aus dem multifunktionalen Mikrokosmos Dorf ein "Teillebensraum" geworden ist: Man wohnt im Neubaugebiet am Dorfrand, arbeitet in der Stadt, die Kinder fahren mit dem Schulbus zum Schulzentrum, man kauft mit dem Pkw im Gewerbegebiet ein, man fährt am Wochenende mit dem Pkw "ins Grüne", und die Freunde wohnen verstreut im weiten Umkreis. Alle Lebensfunktionen finden an unterschiedlichen Orten statt und erfordern eine hohe Mobilität. Wenn das Land zum "Teillebensraum" wird, dann verliert es seine Lebendigkeit und wird steril und "unwirtlich" (Schriftsteller und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich).

Ausgelagert und entsorgt

Diese Entwicklung wird noch zusätzlich dadurch verschärft, dass die Stadt alle Funktionen, für die sie keinen Platz mehr hat, auf das Land verlagert. Das betrifft Lagerhallen, Flugplätze, Mülldeponien, Trinkwassergebiete, großflächige Anlagen zur Energiegewinnung und als neueste Entwicklung riesige Serverfarmen. Dadurch wird das Land zum Abfallprodukt der Stadt. Die heutige Gesellschaft legt zwar großen Wert darauf, die Zentren der Metropolen repräsentativ zu gestalten; und was jedoch jenseits davon geschieht, interessiert nicht und wird übersehen.

Das ist genau das Kernproblem: Die Städter glauben, dass die Stadt aus sich heraus existieren könne und das Land gar nicht brauche. Das ist jedoch falsch: Die Stadt braucht saubere Luft, sauberes Wasser und eine vielfältig-intakte Umwelt, um existieren zu können; sie braucht große Flächen, auf denen die Lebensmittel, Rohstoffe und Energien gewonnen werden, die sie in riesigen Mengen verbraucht; und sie braucht eine attraktive ländliche Umgebung, in der sich die Städter erholen können. Wenn die Stadt glaubt, das Land nicht zu brauchen, dann unterminiert sie ihre eigene Existenzgrundlage.

"Das Land am effektivsten dadurch gefördert, dass ein dezentrales, multifunktionales Wirtschaften und Leben gestärkt wird."

Deshalb muss das Land aufgewertet werden, aber nicht als spezialisierter Teillebensraum: Ländliches Wirtschaften und Leben besitzt aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte den großen Vorteil, ökonomische, ökologische, soziale und kulturelle Aspekte sehr viel enger miteinander verbinden zu können, als es in der Stadt möglich ist, was den Menschen Befriedigung verschafft; und der starke Bezug auf regionale Ressourcen erlaubt es, die unvermeidlichen globalen Krisen ein Stück weit zu dämpfen, was die Resilienz der gesamten Gesellschaft erhöht. Deshalb wird das Land am effektivsten dadurch gefördert, dass ein dezentrales, multifunktionales Wirtschaften und Leben gestärkt wird.

Neue Perspektiven

Früher gab es häufig Kontroversen zwischen konservativen Parteien, die ihren Rückhalt auf dem Land hatten und die das Land nach dem Vorbild der Stadt modernisieren wollten, und fortschrittlichen, städtischen Parteien, bei denen nur die Stadt zählte. Der politische Streit, der daraus entstand, war oft kontraproduktiv, weil Stadt und Land gegeneinander ausgespielt wurden. Heute entwickelt sich in Teilen Europas ein neuer Gegensatz: Immer mehr Menschen auf dem Land fühlen sich von den "etablierten" Parteien im Stich gelassen, verlieren ihr Vertrauen in die Demokratie und wenden sich rechtsextremen Parteien zu, wobei erneut Land und Stadt gegeneinander ausgespielt werden.

Dagegen ist festzuhalten: Stadt und Land sind wechselseitig aufeinander angewiesen, und wenn man sie gegeneinander ausspielt – egal ob auf traditionelle oder auf neue Weise –, dann zerstört man eine Grundlage unserer Gesellschaft. Aber Stadt und Land sind zugleich auch sehr unterschiedlich, und wenn man diese Unterschiede nivelliert, dann entstehen in Stadt und Land sterile "Teillebensräume" und anonyme "Zwischenstädte", in denen sich die Menschen nicht mehr zu Hause fühlen. Die Politik ist zusammen mit den Betroffenen aufgefordert, hier neue Perspektiven zu entwickeln, die quer zu den traditionellen Fronten verlaufen. (Werner Bätzing, 30.5.2020)