Im Gastkommentar blickt Yanis Varoufakis, der ehemalige Finanzminister Griechenlands, besorgt in die Post-Corona-Zukunft.

Um meine schlimmsten Befürchtungen über das kommende Jahrzehnt zu beseitigen, habe ich mich entschlossen, eine düstere Chronik darüber zu schreiben. Wenn sie bis Dezember 2030 durch die Entwicklungen entkräftet worden ist, hoffe ich, dass derart trübe Prognosen eine Rolle gespielt haben, indem sie uns zu entsprechenden Maßnahmen angespornt haben.

Vor den pandemiebedingten Lockdowns glich die Politik einem Spiel. Politische Parteien verhielten sich wie Sportmannschaften, die mal gut und mal weniger gut spielten und entsprechend Punkte erzielten. Damit kletterten sie an die Spitze einer Ligatabelle, die am Ende der Saison darüber entschied, wer an die Regierung kam, um dann so gut wie nichts zu tun.

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"Marsch in die Dunkelheit" heißt das Wandgemälde von Yulier P. in Havanna.
Foto: AP / Ramon Espinosa

Linker Optimismus

Dann verschwand mit der Covid-19-Pandemie die Fassade der Gleichgültigkeit, und die politische Realität kam zum Vorschein: Einige Leute haben die Macht, uns anderen zu sagen, was wir tun sollen. Lenins Definition der Politik als "wer macht was mit wem" schien treffender denn je.

Im Juni 2020, als die Distanzierungsmaßnahmen nachzulassen begannen, blieb der linke Optimismus, dass die Pandemie die Staatsmacht im Namen der Machtlosen wiederbeleben würde, und veranlasste Freunde dazu, über eine Renaissance der Gemeingüter und eine umfassende Definition der öffentlichen Güter zu fantasieren. Ich muss sie daran erinnern, dass Margaret Thatcher den britischen Staat größer, mächtiger und konzentrierter hinterließ, als sie ihn vorgefunden hatte. Ein autoritärer Staat war notwendig, um die von Konzernen und Banken kontrollierten Märkte zu unterstützen. Die Machthaber haben nie gezögert, massive staatliche Interventionen zur Erhaltung der oligarchischen Macht zu nutzen. Warum sollte eine Pandemie das ändern?

Leichte Beute

Covid-19 hätte uns beinahe den britischen Premierminister, den Prince of Wales und sogar Hollywoods schönsten Star entrissen. Aber es waren die ärmeren und brauneren, denen Covid-19 tatsächlich den Tod brachte. Sie waren leichte Beute.

Es ist nicht schwer zu verstehen, warum. Entmachtung führt zu Armut, die die Menschen schneller altern lässt und sie letztlich verwundbarer macht. Im Schatten fallender Preise, Löhne und Zinsen war es nie wahrscheinlich, dass der Geist der Solidarität, der unsere Seelen während des Lockdowns beruhigte, in Form staatlicher Machtausübung zur Stärkung der Schwachen und Verletzlichen eingesetzt werden würde.

Nur Lippenbekenntnisse

Im Gegenteil, es waren die Megafirmen und Ultrareichen, die dankbar waren, dass der Sozialismus lebendig und wohlauf war. Aus Furcht, dass die Massen, die inmitten einer Katastrophe im Gesundheitswesen dazu verdammt waren, sich in der wilden Arena ungehinderter Märkte aufzuhalten, sich ihre Produkte nicht mehr würden leisten können, verlegten sie ihre Ausgaben auf Aktien, Jachten und Villen. Dank des frisch gedruckten Geldes, das die Zentralbanken über die üblichen Investoren an sie verteilten, blühten die Aktienmärkte auf, während die Volkswirtschaften zusammenbrachen. Die Wall-Street-Banker linderten ihr seit 2008 waberndes schlechte Gewissen, indem sie Kunden aus der Mittelschicht um die Reste kämpfen ließen.

Pläne für eine Energiewende, die junge Klimaaktivisten vor 2020 auf die Tagesordnung gesetzt hatten, waren nur Lippenbekenntnisse, während die Regierungen unter turmhohen Schuldenbergen kollabierten. Das vorsorgliche Sparen der Vielen verstärkte die wirtschaftliche Depression und führte zu Unzufriedenheit in großangelegtem Maßstab auf einem braun werdenden Planeten.

Politische Monster

Die Kluft zwischen der Finanzwelt und der realen Welt, in der Milliarden von Menschen zu kämpfen hatten, vergrößerte sich unweigerlich. Und mit ihr wuchs die Unzufriedenheit, die zu den politischen Monstern führte, vor denen ich meine linken Freunde warnte.

Wie in den 1930er-Jahren, als die Früchte des Zorns in den Seelen vieler Menschen tief und schwer hingen und für eine bittere Ernte sorgten. Anstelle der Seifenkisten der 1930er-Jahre, aus denen heraus Demagogen den verärgerten Massen versprachen, ihnen ihre Würde zurückzugeben, stellte Big Tech Apps und soziale Netzwerke zur Verfügung, die für diese Aufgabe perfekt geeignet waren.

"Ein System, das unseren Husten überwacht, kann auch unser Lachen überwachen."

Als die Gemeinschaften sich der Angst vor einer Ansteckung ergaben, schienen die Menschenrechte zu einem unerschwinglichen Luxus zu werden. Big Tech entwickelte biometrische Armbänder, um unsere lebenswichtigen Daten rund um die Uhr zu überwachen. In Zusammenarbeit mit den Regierungen kombinierten sie den Output mit Geolokalisierungsdaten, speisten alles in Algorithmen ein und sorgten dafür, dass die Bevölkerung hilfreiche Textnachrichten erhielt, die sie darüber informierten, was sie tun oder wohin sie sich wenden mussten, um neue Ausbrüche zu verhindern.

Aber ein System, das unseren Husten überwacht, kann auch unser Lachen überwachen. Es könnte wissen, wie unser Blutdruck auf die Rede des Führers, auf die aufmunternden Worte des Chefs und auf die Ankündigung der Polizei, eine Demonstration zu verbieten, reagiert. Der KGB und Cambridge Analytica wirkten plötzlich vorsintflutlich.

Wiederbelebter Nationalstaat

Als die Staatsmacht durch die Pandemie wieder legitimiert wurde, nutzten zynische Agitatoren dies aus. Anstatt die Stimmen zu stärken, die nach internationaler Zusammenarbeit riefen, verstärkten China und die Vereinigten Staaten den Nationalismus. Auch anderswo schürten nationalistische Führer die Fremdenfeindlichkeit und boten den demoralisierten Bürgern ein einfaches Geschäft an: persönlichen Stolz und nationale Größe im Austausch gegen autoritäre Mächte, die sie vor tödlichen Viren, gerissenen Ausländern und intriganten Dissidenten schützen sollten.

So wie die Kathedralen das architektonische Erbe des Mittelalters waren, hinterließen uns die 2020er-Jahre hohe Mauern, elektrifizierte Zäune und Schwärme von Überwachungsdrohnen. Mit der Wiederbelebung des Nationalstaates wurde die Welt weniger offen, weniger wohlhabend und weniger frei, gerade für diejenigen, denen es schon immer schwergefallen war, zu reisen, über die Runden zu kommen und ihre Meinung zu sagen. Für die Oligarchen und Funktionäre von Big Tech, Big Pharma und anderen Megafirmen, die sich mit den starken Machthabern gut verstanden, schritt die Globalisierung rasch voran.

Neue Spaltungen

Der Mythos des globalen Dorfes wich einem Gleichgewicht zwischen Großmachtblöcken mit erstarkendem Militär, getrennten Lieferketten, eigenwilligen Autokratien und Klassenunterschieden, die durch neue Formen des Nativismus verstärkt wurden. Die neuen sozioökonomischen Spaltungen warfen die vorherrschenden Merkmale der Politik der einzelnen Länder in ein scharfes Licht. Wie Menschen, die in einer Krise zur Karikatur ihrer selbst werden, konzentrierten sich ganze Länder auf ihre kollektiven Illusionen und zementierten bereits bestehende Vorurteile.

Die große Stärke der neuen Faschisten in den zwanziger Jahren bestand darin, dass sie im Gegensatz zu ihren politischen Vorfahren nicht einmal in die Regierung eintreten mussten, um an die Macht zu gelangen. Liberale und sozialdemokratische Parteien begannen, sich in fremdenfeindliche, dann autoritär-lineare, dann totalitär-lineare Parteien zu verwandeln.

Damit wäre das Jahrzehnt zu Ende. Wo stehen wir? (Yanis Varoufakis, Übersetzung: Eva Göllner, Copyright: Project Syndicate, 1.6.2020)