Foto: Heyne

Nach einer Weile ertönte von den Pflanzfeldern das entfernte Klappern der Skelette herauf, die dort stumpfsinnig Schneelauch pflückten. Gideon sah vor ihrem inneren Auge, wie sie sich schlammig beinern in der schwefeligen Düsternis bewegten, die Augen eine Vielzahl unruhiger roter Punkte, und ihre Hacken über die Erde klapperten. (...) Schatten sammelten sich vor den kalten weißen Toren von Schloss Drearburh, die stattlich und hochherrschaftlich von der nackten Erde aufragten, in die Felswand hineingeschlagen, drei Leichname breit und sechs Leichname hoch.

"Ich bin Gideon", der Debütroman der Neuseeländerin Tamsyn Muir, ist ein schönes Beispiel dafür, dass eine Erzählung noch lange nicht Science Fiction sein muss, nur weil sie im Weltraum respektive auf verschiedenen Planeten angesiedelt ist. Wir betreten hier ein Universum, das von Thanergie betrieben wird: Nekromanten erzeugen die erforderliche Technologie (und so manchen Ekeleffekt) aus totem Körpergewebe, animierte Skelette spielen die Rolle von Robotern und so weiter.

Ergänzt wird das Ganze, weil der Roman sehr auf den Faktor Worldbuilding setzt, durch eine Ausstattung, für die ein ganzer Gothic-Megastore geplündert worden sein muss. Ganz so "einzigartig", wie in vielen Rezensionen geschrieben wird, ist das freilich nicht: Wer am Tag-der-Toten-Design von "Ich bin Gideon" Gefallen gefunden hat, könnte auch mal John Meaneys "Tristopolis"-Romane aus den 2000ern versuchen; dort wird das sogar noch um einiges weiter getrieben. Weniger langweilig sind sie außerdem.

Zur Handlung

Der Imperator und oberste Nekrolord ruft Vertreter aller neun Häuser – jedes davon auf einem eigenen Planeten ansässig – zu sich. Der letzte seiner Paladine, Lyctoren genannt, ist nach 10.000 Jahren doch noch gestorben, es wird also eine neue Generation gebraucht. Der Ruf ergeht auch an das Neunte Haus auf der Welt Drearburh, das selbst in diesem morbiden Universum einen schlechten Ruf hat. Zum einen, weil seine Aufgabe das Bewachen einer ominösen Gruft ist, zum anderen, weil es sich in stark fortgeschrittenem Niedergang befindet. Es fehlt an Ressourcen und Personal – was seine nominelle Führung übrigens miteinschließt. Lord und Lady sind längst tot, ihre Leichen werden aber von ihrer ehrgeizigen Tochter Harrowhark Nonagesimus wie Marionetten in Bewegung gehalten, um den Schein zu wahren.

Eigentliche Hauptfigur des Romans ist Harrowharks Kavalierin (also Fechtmeisterin/Bodyguard/...) Gideon Nav; ein Findelkind unbekannter Herkunft, das eines Tages im Neunten Haus abgelegt wurde. Harrowhark und Gideon sind einander in inniger Hassliebe verbunden, was sich in einem Dauergeplänkel über den gesamten Roman hinweg äußert. Und ganz generell fühlt sich Gideon in ihrer sklerotischen Umgebung fehl am Platze. Wir lernen sie kennen, als sie gerade zum wiederholten Male vergeblich versucht, von Drearburh abzuhauen. Stattdessen wird sie von Harrowhark für die Reise zur Welt des Imperators verpflichtet.

Für ein junges Publikum

Nachdem wir diese Welt nach 120 Seiten betreten haben, werden wir sie für den Rest des 600 Seiten langen Buchs auch nicht mehr verlassen. Man eröffnet den Vertretern der Häuser, dass sie sich zu bewähren hätten – verrät ihnen aber nicht, wie. Fürderhin sind die Protagonisten, und von denen gibt es jede Menge, damit beschäftigt, zu rätseln, zu küngeln, sich gegenseitig zum Abendessen einzuladen, Duelle mit dem Rapier auszutragen und nebenher nach jenen Schlüsseln zu suchen, die zur Bewältigung ihrer Aufgabe nötig sind. Und bald geht in den dunklen Gängen auch ein Mörder um, der einen Hoffnungsträger nach dem anderen killt. Irgendwie kam ich mir ein bisschen wie in Hogwarts vor.

Insgesamt würde ich Muirs Roman der Jugendliteratur zuordnen. Gideon, die sarkastische Rebellin mit der Leckt-mich-alle-am-Arsch-Attitüde, ist klar als Identifikationsfigur aufgebaut. Und bei jüngeren Lesern dürfte die Ansprache – "Es war alles so völlig schräg und total scheiße gewesen" – vermutlich besser funktionieren als bei älteren. Gideon ist sicher kein sauberer Held wie Harry Potter. Das heißt jedoch nicht, dass sie weniger bieder wäre. Das kommt just dann am stärksten hervor, wenn Muir glaubt, gegenteilige Signale zu setzen. Etwa wenn sie voller Eifer gleich mehrfach erwähnen muss, dass Gideon P-o-r-n-o-h-e-f-t-e im Gepäck hat. Uuuuuh, wie verwegen.

Jede Stunde im Leben der Hauptfigur auserzählen ist nicht dasselbe wie hohe Erzählkunst

So weit, so Geschmacksfrage. Ich lese Young-Adult-Romane durchaus gerne, kommt – wie bei allen Büchern – ganz darauf an, wie sie gemacht sind. Dass ich hier insgesamt eher unterwältigt bleibe, liegt wie so oft an der Länge. Nehmen wir als positives Gegenbeispiel "Murderbot"-Schöpferin Martha Wells: Die hat ihr Konzept erst einmal in Novellenlänge getestet und dann einen Roman folgen lassen. Tamsyn Muir hingegen ist eine typische Vertreterin der aktuellen Generation und macht's für ihr Debüt nicht unter einer Trilogie von fetten Wälzern. Ich weiß nicht, woher Autoren die Idee nehmen, sie hätten schon in den Startlöchern ihrer Karriere so wahnsinnig viel zu erzählen, wenn sie dann über hunderte Seiten hinweg den Gegenbeweis antreten.

Ich weiß aber, woran es mich erinnert: nämlich an die spätestens seit den 2000ern zur Blähsucht neigende High Fantasy. (Ich denke noch mit Schrecken daran zurück, wie mir bei Robin Hobbs "Nevare"-Trilogie seinerzeit die Füße eingeschlafen sind.) Und das ist schon interessant, handelt es sich bei Muirs Roman doch – wie zuvor etwa auch bei Arkady Martines "Im Herzen des Imperiums" – um ein Fantasy-Szenario, das halt auf andere Planeten verlegt wurde. Viel Ausstattung, viel Personal mit klingenden Namen, viele Dialoge und wenig Dynamik. Im Grunde wirkt es fast zwangsläufig: Wenn schon die erzählerischen Muster dieser Variante von Fantasy übernommen werden, warum dann nicht auch gleich die Portionsgröße, in der diese vermarktet wird?

Ob Tamsyn Muir, Arkady Martine oder Ann Leckie: Schlägt man eines ihrer Bücher an einer beliebigen Stelle auf, landet man mit allergrößter Wahrscheinlichkeit mitten in einem Gespräch in opulenten Räumlichkeiten, weil das eben die typische Szene ist. Dass "Ich bin Gideon" mit einer Schicht Gruftie-Makeup oberflächlich aufgefrischt wurde, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nur das jüngste Beispiel für die Verteetrinkisierung der Science Fiction ist.