Ein ehemaliger Insasse erzählt von der ersten Zeit in Freiheit.

Foto: regine hendrich

Andreas T. (Name geändert, Anm.) saß 32 Jahre lang wegen Gewaltverbrechen hinter Gittern. Er verbrachte einen großen Teil seines Lebens im Maßnahmenvollzug.

"Es klingt vielleicht blöd, aber ich habe mich lange im Häfn teilweise wohler gefühlt als draußen. Ich habe dort meine Ruhe und meine Arbeit gehabt. Strafe habe ich insgesamt elf Jahre gekriegt, der Rest war Maßnahme (Unterbringung sogenannter geistig abnormer Rechtsbrecher, Anm.). Das Eingesperrtsein war für mich nie so das Thema. Immer wenn ich was gemacht habe, habe ich im Endeffekt auf die Polizei gewartet.

Das ganze System passt nicht zusammen; es gibt Beamte, Sozialarbeiter, Therapeuten, Psychiater – aber die Zusammenarbeit funktioniert nicht wirklich. In Stein (Justizanstalt, Anm.) habe ich mich mit vielen gestritten. Eine Therapeutin hat das aber ausgehalten. Sieben Jahre bevor ich heimgegangen bin, ist aus mir in der Therapie etwas rausgebrochen. Und von dort ist es bergauf gegangen. Irgendwann bin ich runter vom Gas, ruhiger geworden. Dann waren alle überrascht, wie sehr ich mich geändert habe.

Zuerst war ich Probe wohnen. Da habe ich gleich einen gewaltigen Absacker gehabt und etwas gestohlen. Ich weiß bis heute nicht, warum. Deshalb hat sich das Probewohnen um ein Jahr verlängert. Ich bin vor meiner Feigheit davongelaufen, habe mich gefürchtet, heimzugehen.

Im September 2016 bin ich dann entlassen worden. Ich habe mein Geld geholt, bin rausgegangen und mit dem Zug nach Wien gefahren. Dort ist dann die Betreuerin mit mir zum Magistrat und zum AMS gefahren und hat mich angemeldet. Danach war ich einkaufen. Am Abend bin ich zum ersten Mal Essen gegangen, im Lokal vor meiner Haustür.

Danach haben die Schwierigkeiten angefangen. Wenn du 32 Jahre im Gefängnis bist, bist du auf gut Deutsch entmündigt. Auf einmal hockst du allein in einer Wohnung. Am Abend habe ich dann gewartet und mich gefragt: Wann kommt der Trottel endlich zusperren? Und in der Früh habe ich gewartet, bis endlich wer aufsperrt.

Dann ist Weihnachten gekommen. Da spürst du dann so richtig, wie allein du bist. Ich bin auf der Couch gesessen, eine Flasche Wodka vor mir, eine Packung Schlaftabletten daneben. Dann habe ich gesagt: Jetzt mache ich Schluss, jetzt scheiße ich drauf. Ich muss ihr (seiner Hündin, Anm.) danken, dass ich noch lebe. Sie ist von ihrem Platz aufgestanden und hat ihren Kopf auf mein Knie gelegt. Und dann habe ich gewusst, was ich will. Ich habe zu ihr gesagt: Du kommst nicht mehr ins Heim – und ich komme nicht mehr in den Häfn.

Ich bin dankbar, dass es Betreuung gibt. Aber wenn ich als Person nicht will, kann auch er (zeigt auf einen Sozialarbeiter vom Verein Neustart, Anm.) nur im Kreis hupfen und es bringt nix. Im Endeffekt muss ich es selber schaffen.

Ich stehe jeden Tag um fünf Uhr auf und gehe mit dem Hund spazieren. Nach der Entlassung habe ich getischlert, aber derzeit gibt's keine Arbeit. Am Anfang war ich verzweifelt, weil ich mich im Häfn 30 Jahre lang um nix kümmern musste. Dann hat man auf einmal ein paar Hunderter im Sack und fragt sich: Kann ich davon leben? Am Anfang habe ich viel gekauft, aber das hat sich ziemlich schnell aufgehört. Am umständlichsten ist das Handy. Technisch bin ich eine Wildsau. Ein Kollege hat mir von Facebook erzählt, aber das interessiert mich nicht.

Auf der einen Seite war es draußen eine Freude, auf der anderen Seite Unsicherheit. Ein paar Leute habe ich aus der Haft gekannt, aber sonst war ich anonym. Dann habe ich meine Freundin kennengelernt, sie ist mir im wahrsten Sinne des Wortes reingelaufen. Über meine Vergangenheit weiß sie Bescheid.

Freiheit ist für mich, einfach machen zu können, was ich will. Dass ich mich aufs Radl hocke und irgendwohin fahre, ohne dass ich wen fragen muss. Oder dass ich ein paar Stunden im Hundepark sitze und dann ein Eis essen gehe. Seit ich in der Wohnung bin, war ich vielleicht dreimal bis zehn in der Nacht draußen. Meistens bin ich um halb sieben zu Hause. Dann telefoniere ich mit meiner Freundin, sehe fern oder koche. Oder sitze beim Computer oder lege Karten. Manchmal gehe ich ins Stadion.

Ich mache noch Therapie, wobei einem nach so vielen Jahren irgendwann der Gesprächsstoff ausgeht. Was man ändern konnte, haben wir geändert. Das Beste am Draußen-Sein ist bisher, dass ich nicht mehr reingegangen bin. Wie ich damals nach der Entlassung in den Zug gestiegen bin, habe ich mir gedacht: Die Strecke fährst du jetzt zum letzten Mal."

Eine Aufnahme aus der Justizanstalt Stein.
Foto: regine hendrich

Franz O. wurde wegen Raubes verurteilt. Er wurde nach dreieinhalb Jahren vorzeitig entlassen und lebt heute zurückgezogen.

"Bei der Urteilsverkündung bin ich neben mir gestanden, es war, als würde es mich irgendwie gar nicht betreffen oder berühren. In dem Moment ist keine Panik in mir aufgekommen. Danach natürlich schon. Es war schlimm, der Freiheit beraubt zu sein, selbst Entscheidungen treffen zu können. Deshalb bin ich drinnen auch immer wieder in Konflikte geraten. Ich hatte aber bald Freigang und habe gearbeitet, unter anderem in der evangelischen Gemeinde. Außerdem habe ich eine Ausbildung als Seelsorger gemacht.

Nach dreieinhalb Jahren hieß es, dass ich in vier Wochen nach Hause gehen kann. Am Tag vor meiner Entlassung habe ich meine Sachen hergeschenkt. Dann habe ich meinen Koffer gepackt und bin vor der Tür gestanden. Das war vor fünf Jahren.

Zuerst bin ich ins Hotel gegangen. Ich war in der glücklichen Lage, dass ich rational meine Dinge erledigen konnte. Auch finanziell war ich so abgesichert, dass ich keine Probleme hatte. Die ersten Monate nach der Entlassung war ich einmal damit beschäftigt, mir das Notwendigste zu organisieren. Drei Wochen habe ich gebraucht, bis ich eine möblierte Wohnung gefunden habe. Gleich bei der Wohnungssuche fangen die Lügen ja schon an: von wegen, man habe sich von seiner Frau getrennt und suche jetzt deshalb eine neue Bleibe – und so weiter.

Ich könnte nicht sagen, wie es gewesen wäre, wenn ich nicht zuvor schon relativ viel Freigang gehabt hätte. Ich bin da kein Paradebeispiel, weil ich selbst ganz gut auf den Beinen stehe. Eine gute Vorbereitung auf die Entlassung für alle wäre essenziell. Viele können sich danach vielleicht zwei oder drei Wochen über Wasser halten. Arbeiten, Wohnen ... das sind Existenzgrundlagen für jemanden, der entlassen wird. Da muss man erst einmal wieder in einen Rhythmus reinkommen, nachdem man in Haft vielleicht ein paar Stunden pro Tag gearbeitet hat, um 11 Uhr Mittagessen und um 16 Uhr Abendgegessen hat. Das sind einfach Dinge, die völlig lebensfremd sind. Aber man gewöhnt sich stark daran.

Die Frage, warum ich es gemacht habe, geistert immer noch in mir herum. Ich kann es nicht sagen. Nach der Entlassung bin ich zwei- bis dreimal wöchentlich zur Therapie gegangen. Das zweite große Fragezeichen ist, warum ich zur selben Zeit nach 30 Jahren glücklicher Beziehung meine Frau für eine andere verlassen habe. Während meiner Zeit in Haft ist dann auch diese Beziehung in die Brüche gegangen. Ich war ziemlich fertig und hatte keine Perspektive. Ich habe damals starke Depressionen gekriegt.

Zu meiner Ex-Frau habe ich mittlerweile eine ganz gute Beziehung. Seit der Haft habe ich aber Schwierigkeiten mit Berührungen. Im Grunde gibt es neben ihr nur zwei Personen, mit denen ich engeren, freundschaftlichen Kontakt habe. Nach meiner Entlassung bin ich mehrere Male umgezogen, mittlerweile wohne ich auf dem Land. Das frühe Aufstehen habe ich beibehalten. Wenn ich in der Früh mit dem Hund gehe, ist jetzt meine liebste Zeit, da treffe ich keinen. Ich lebe sehr zurückgezogen. Es kostet mich viel Überwindung, rauszugehen. Es bedeutet für mich permanenten Stress. Ich weiß nicht, ob ich mich wegen der Haft verändert habe, aber es ist jedenfalls so. Mich stört es aber nicht.

Ich habe meine Rente und komme über die Runden. Vier oder fünf Tage im Monat arbeite ich an der Rezeption in einem Stundenhotel, das ist ganz lustig. Und ein paar Tage arbeite ich an der Uni. Ich habe nicht das Bedürfnis nach einem neuen Leben. Nur dass ich psychisch und physisch über die Runden komme. Viele wollen nach der Entlassung viel nachholen. Wenn sie zum Beispiel 40 sind und bisher nix gehabt haben – außer Probleme. Ich kann aber auf ein ganz schönes Leben zurückblicken. Ich könnte nicht sagen, dass das Leben mich irgendwann für etwas bestraft hätte. Bei mir ist es erst spät aus dem Ruder gelaufen. Ich kann eigentlich sagen, dass ich zufrieden bin. Freiheit bedeutet für mich, dass man nicht abhängig ist. Egal, von wem." (Protokolle: Vanessa Gaigg, 11.6.2020)