Eine Lichtung an der tschechisch-deutschen Grenze war einer der Treffpunkte vom vergangenen Samstag

Foto: Stephan Messner / Facebook

Die Covid-19-Pandemie kennt keine Grenzen. Ganz im Gegensatz zu Europa, wo aus Angst vor dem Coronavirus alte Grenzen erneut geschlossen wurden. Sie verlaufen selbst dort, wo sie trotz der aktuellen Reisebeschränkungen so gut wie unsichtbar geblieben sind. Etwa beim Übergang Eulenthor, mitten im Wald, irgendwo zwischen dem nordböhmischen Dorf Jílové und dem sächsischen Rosenthal.

Auf einer kleinen Lichtung, die teils auf tschechischem und teils auf deutschem Boden liegt, fand am Samstag eine von insgesamt 18 Begegnungen von Bürgerinnen und Bürgern statt, die für eine rasche Öffnung der Grenzen eintreten. "Menschen aus beiden Ländern haben die Lichtung an diesem Tag zu ihrem gemeinsamen Ort gemacht", schwärmt der Organisator Jan Kvapil, Germanist an der Universität von Ústí nad Labem (Aussig an der Elbe), im Gespräch mit dem STANDARD. "Plötzlich war das hier kein 'Niemandsland', sondern ein 'Unserland'."

Kvapil schätzt die Teilnehmerzahl auf ungefähr 80. Slogans wurden auf dieser Demonstration keine skandiert. Und doch handelte es sich nicht einfach nur um ein gemeinsames Picknick im Wald. Das Treffen sollte gleichsam sich selbst reflektieren und auf die Bedeutung jener bilateralen Begegnungen hinweisen, die zuletzt in vielen Bereichen zum Erliegen gekommen sind – sei es privat, wirtschaftlich oder auf dem Feld der Wissenschaft. Teil des Programms war etwa ein "Waldkolloquium" zum Thema Grenzen, bestehend aus Vorträgen von Experten verschiedenster Fachrichtungen.

"Biene Maja" als inoffizielle Hymne

Und natürlich wurde auch gemeinsam gesungen. Längst hat die Bewegung, die seit Anfang Mai an immer anderen Grenzübergängen Tschechiens solche Treffen organisiert, ihre eigene inoffizielle Hymne: das Titellied der Zeichentrickserie Biene Maja, einst vom Schlagersänger Karel Gott auf Deutsch und Tschechisch eingespielt und auch für die Kinder der 1970er-Jahre bis heute ein unvergessener Ohrwurm. "Sogar auf Polnisch ist das Lied sehr populär", ergänzt Kvapil. Eine der Begegnungen vom vergangenen Samstag nämlich fand im tschechisch-deutsch-polnischen Dreiländereck statt – genau dort, wo anlässlich der großen EU-Osterweiterung in der Nacht auf 1. Mai 2004 tausende Menschen gemeinsam mit Polit-Prominenz aus Prag, Berlin und Warschau das vereinte Europa gefeiert hatten. An der Grenze zu Österreich soll erst nächsten Samstag wieder demonstriert werden.

Auch Libor Rouček, tschechischer Sozialdemokrat und ehemaliger Vizepräsident des Europäischen Parlaments, unterstützt die Forderung nach einer baldigen Öffnung der Grenzen. Gemeinsam mit anderen Persönlichkeiten aus Politik, Kunst und Wissenschaft plädierte er jüngst in einem offenen Brief an die Regierungen in Prag und Bratislava für eine Vorreiterrolle Tschechiens und der Slowakei. "Beide Staaten haben sehr gute epidemiologische Ergebnisse", so Rouček zum STANDARD. "Und wenn sich die Tschechoslowakei 1993 nicht geteilt hätte, dann gäbe es dort heute überhaupt keine Grenze." Dennoch: Auf Reaktionen der Regierung wartete man auf beiden Seiten vergeblich.

Die tschechische Grenze hat auch im Privatleben des 1954 geborenen Rouček große Bedeutung. Als 23-Jähriger war er aus der kommunistischen Tschechoslowakei nach Österreich geflohen und landete zunächst im Flüchtlingslager Traiskirchen. Bevor es ihn als Politikwissenschafter beruflich in die USA und nach Australien verschlug, lebte er zunächst eine Zeitlang in Alberndorf im Pulkautal, in unmittelbarer Nähe des Eisernen Vorhangs.

Blick in die alte Heimat

"Dort habe ich meine Dissertation geschrieben", erinnert sich Rouček. Wenn er frische Luft schnappen wollte, fuhr er oft mit dem Fahrrad hinauf in die Weinberge und schaute auf der anderen Seite ins südmährische Znaim hinunter. "Natürlich konnte ich nicht über die Grenze zurück, ohne dass ich verhaftet worden wäre. Und jetzt, 40 Jahre später, lebe ich wieder in Tschechien – und darf wieder nicht nach Österreich." Zumindest nicht ohne Kontrollen und ohne die weiterhin gültigen Auflagen wie einen negativen Corona-Test oder Pflichtquarantäne nach der Heimkehr.

Als Europapolitiker bleibt Rouček dennoch optimistisch. Die EU habe bis jetzt immer aus Krisen gelernt und sei gestärkt aus diesen hervorgegangen. "Ich vertraue darauf, dass das auch nun der Fall sein wird." Dazu sei es jedoch nötig, offen die zutage getretenen Schwachstellen zu analysieren, etwa die vor allem anfangs fehlende Koordination sowie mangelnde Solidarität innerhalb Europas, sagt Rouček: "Es wäre gut, Schutzmaßnahmen in Krisenfällen künftig geamteuropäisch zu regeln – und wenn schon nicht gesamteuropäisch, dann wenigstens in Absprache zwischen den Nachbarstaaten."

Immerhin zeichnet sich weiterhin eine baldige Wiederherstellung der Reisefreiheit in Mitteleuropa ab: Die Einreisebeschränkungen zwischen Österreich, Tschechien, der Slowakei und Ungarn könnten noch Mitte Juni fallen. Tschechien jedenfalls will seine Grenzen zu 20 als "sicher" eingestuften europäischen Staaten, darunter zu allen seinen Nachbarländern, am 15. Juni komplett öffnen. Auch die Pflicht zum Vorlegen negativer Corona-Tests respektive zum Antritt einer 14-tägigen Quarantäne soll dann fallen, erklärte Außenminister Tomáš Petříček am Montagabend auf einer Pressekonferenz in Prag. Mit Deutschland, der Schweiz und Liechtenstein hat Österreich bereits eine vollständige Öffnung ab dem 15. Juni vereinbart.

Neue Regeln in der Slowakei

Die Slowakei wiederum hatte besonders strenge Einreiseregelungen eingeführt und stand bei der Grenzöffnung zuletzt auf der Bremse. Ab Dienstag dürfen in Tschechien und Ungarn lebende Personen ohne die bisherige Verpflichtung zu einem Corona-Test oder zu Quarantäne einreisen – allerdings nur, wenn sie das Land innerhalb von 48 Stunden wieder verlassen. Auch in bürokratischer Hinsicht macht man es den Betroffenen nicht leicht: Bei der Einreise in die Slowakei ist die Vorlage von zwei Beweisen über einen Wohnsitz in Tschechien oder in Ungarn erforderlich, zum Beispiel eine Strom- und eine Handyrechnung, sagte Premierminister Igor Matovič am Montagabend in Bratislava. (Gerald Schubert, 2.6.2020)