Ausnahmesituationen, wie die Covid-19-Krise, stellen immer auch eine große psychische Belastung und Herausforderung dar. Die Entwicklung von Analyse- und Therapieformen der individuellen sowie gesellschaftlichen psychischen Verfasstheit wurde von österreichischen Forscherinnen und Forschern maßgeblich geprägt. Viele ihrer Stimmen können im Onlinearchiv der Österreichischen Mediathek nachgehört werden.

Auf der Suche nach Sinn

"Die Welt ist nicht heil, aber heil-bar", so ein Leitsatz des Psychiaters Viktor Emil Frankl, der in den 1930er Jahren die Logotherapie und Existenzanalyse begründete. Im Zentrum der anthropologisch-philosophischen Forschungsrichtung und diagnostischen Praxis steht die menschliche Suche nach dem Sinn. Frankl wurde 1905 in Wien geboren. Von 1933 bis 1937 leitete er im Psychiatrischen Krankenhaus in Wien den sogenannten "Selbstmörderinnenpavillon", wo jährlich bis zu 3.000 suizidgefährdete Frauen betreut wurden. Nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich wurde ihm aufgrund seiner jüdischen Herkunft untersagt, "arische" Patienten zu behandeln. 1942 wurde Frankl ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Er überlebte drei Konzentrationslager. Seine Eindrücke und Erfahrungen aus dieser Zeit verarbeitete er in dem Buch "... trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager."

Viktor Frankl im Jahr 1997
Foto: APA/ROBERT JAEGER

Sinnfindung und Werteverwirklichung sind nach Frankl auch in Krisensituationen zentral für die psychische Gesundheit. In seinen Vorträgen: "Das Leiden am sinnlos gewordenen Leben. Zur Phänomenologie der existentiellen Frustration in der modernen Industriegesellschaft" und "Der Mensch und seine Ängste, Psychotherapie als Krisenmanagement" in den späten 1970er Jahren, referiert Frankl mitreißend und humorvoll über seinen Ansatz einer Psychotherapie durch Sinnfindung und den Methoden der Logotherapie in Abgrenzung zu anderen psychotherapeutischen Richtungen.

Ganz im Gegensatz zu Sigmund Freud, der in einem Brief an die Prinzessin und Psychoanalytikerin Marie Bonaparte schreibt: "Im Moment, in dem man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn man hat nur eingestanden, das man einen Vorrat von unbefriedigter Libido hat," sieht Frankl in der Frage nach dem Sinn des Lebens eine Manifestation der "geistigen Mündigkeit und intellektuellen Redlichkeit des Menschen".

Die Erforschung des Unbewussten

Anna und Sigmund Freud im Jahr 1920.
Foto: Wikimedia Commons, Public Domain

Die Geschichte der modernen Psychotherapie beginnt um 1900 mit der Psychoanalyse. Sigmund Freud verwendete den Begriff Psychoanalyse, für die von ihm begründete und entwickelte Wissenschaft von den Vorgängen im Seelenleben. Mit verschiedenen Methoden, wie Hypnose, der sogenannten "freien Assoziation" oder der Traumdeutung erforschte er das Unbewusste.

Auch er entschloss sich 1938 zur Emigration. Nach Bezahlung der "Reichs-fluchtsteuer", gelang es Freud, das Land zu verlassen. Seine erzwungene Unterschrift unter der "Erklärung", von der Geheimen Staatspolizei korrekt behandelt worden zu sein, ergänzte er mit den Worten "Ich kann die Gestapo jedermann auf das Beste empfehlen". Im Juni desselben Jahres kam Freud mitsamt Familie nach London. Hier entstand die einzige heute noch erhaltene Tonaufnahme seiner Stimme: im Interview mit der BBC spricht Freud zunächst auf Englisch über die Entwicklung der Psychoanalyse, danach auf Deutsch über seine Vertreibung aus Wien

Die Psychoanalytikerin Anna Freud war das jüngste der sechs Kinder von Sigmund und Martha Freud. Ihr Leben widmete sie der Fortführung des intellektuellen Abenteuers ihres Vater sowie der Kinderanalyse. Bereits 1923 öffnete sie ihre eigene psychoanalytische Praxis für Kinder in der Berggasse 19. Nach Ausbruch des 2. Weltkrieges richtete sie im Exil in Großbritannien die "Hampstead War Nursery"  ein, die Kinder von alleinstehenden Eltern betreute. "Über die Bedeutung der Kinderanalyse" hält Anna Freud auf Einladung der Sigmund Freud-Gesellschaft 1978 einen Vortrag in Wien.

Das wissenschaftliche Œuvre Anna Freuds umfasst über 150 Publikationen. Ihr Hauptwerk "Das Ich und die Abwehrmechanismen", das im Jahr 1936 erschien, leistete einen wesentlichen Beitrag für die Entwicklungspsychologie und die neu entstehende analytische Ich-Psychologie. Im Vortrag "Die Einsicht in das Unbewusste" von 1980 reflektiert Anna Freud über die Sicht auf die Innen- und Außenwelt des Individuums, über Ich-Funktionen und die Erweiterung des Bewusstseins durch psychoanalytische Methoden.

Individualpsychologie und sozialistische Aufbauarbeit

Als Vorläufer der 1910 gegründeten Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung gilt die Psychologische Mittwochsgesellschaft – ein Arbeitskreis, der von Sigmund Freud ins Leben gerufen wurde. An den Diskussionsrunden nahm auch der Arzt und Psychotherapeut Alfred Adler teil. Adler gilt als Begründer der sogenannten "Zweiten Wiener Schule" der Psychotherapie.

Die Lehre der Individualpsychologie wich von Freuds Psychoanalyse ab und versucht den Menschen aus seinen individuellen Lebensgeschichten heraus zu verstehen und ihn zur Gemeinschaft zu erziehen. Ihre Blütezeit erlebt die "Psychologie für eine neue Gesellschaft" im Roten Wien und sieht "ihre pädagogisch-psychologische Arbeit als politische Aufbauarbeit", so Almuth Bruder-Bezzel in ihrer Publikation "Geschichte der Individualpsychologie".

1980 spricht Kurt Adler, einziger Sohn von Alfred Adler, in der Ö1 Sendereihe "Von Tag zu Tag" mit Manfred Jochum über die sozialistische und antiautoritäre Haltung seines Vaters, die Konflikte zwischen ihm und Sigmund Freud sowie über Begriffe und Erkenntnisse der Individualpsychologie. 1934 emigrierte Adler in die USA, wo seine Lehre vom Menschen als sozialem Wesen außerordentlich populär war.

"Psychiater der Nation"

Erwin Ringel
Foto: Robert Newald

Die direkte Verbesserung der Lebensumstände, des psychosozialen Umfeldes sowie Erziehung und der öffentlichen Einrichtungen waren zeitlebens auch Anliegen des Psychiaters und Suizidforschers Erwin Ringel. Mit seinem Werk "Die österreichische Seele. 10 Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion" wurde Ringel zum Seelendoktor der Nation.

Als Erforscher der "österreichischen Seele" und den tiefenpsychologischen Aspekten der Gesellschaftspolitik, war er über viele Jahre hinweg ein gefragter Kommentator des gesellschaftspolitischen Geschehens. 1973 beschreibt er den Empfang des Skifahrers Karl Schranz auf dem Heldenplatz als "Massenkundgebung, wie es seit dem Einzug Hitlers im Jahr 1938 keine mehr gegeben hat". Zu der "Massenhysterie" kam es, weil Schranz kurz vor Beginn der Olympischen Winterspiele in Sapporo vom Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees wegen eines Verstoßes gegen das Amateurgesetz von der Teilnahme ausgeschlossen worden war. Bei seinem Einzug in Wien und seiner Fahrt zum Ballhausplatz sollen 87.000 Menschen anwesend gewesen sein. "Der verlorene Sohn" wurde von Bundeskanzler Bruno Kreisky ins Bundeskanzleramt eingeladen und grüßte die Menge vom Balkon, der eigentlich Politikerinnen und Politiker vorbehalten ist.

Erwin Ringel wurde während des 2. Weltkriegs mehrmals zur Wehrmacht einberufen. 1941 gelang es ihm, nachdem er auf einen Vorgesetzten und Hitler geschimpft und seinem Kommandanten das Gewehr vor die Füße geworfen hatte, mit Hilfe zweier befreundeter Ärzte aufgrund "psychiatrischer Probleme" von der Wehrmacht entlassen zu werden. Schon lange bevor die "Waldheim-Affäre" mediales Aufsehen erregte, befasste sich Ringel mit dem österreichischen Opfermythos und Antisemitismus.

1948 baute Ringel das weltweit erste Suizidpräventionszentrum in Wien auf. Der Suizid stand für ihn am Ende einer krankhaften Entwicklung, die verhindert werden kann. Seine wissenschaftliche Beschreibung der gesellschaftliche Hintergründe und Tabuisierung der Selbsttötung brachte ihm immer wieder auch Ärger mit kirchlichen Autoritäten ein. Selbst gläubiger Katholik, bezeichnete Ringel die Kirche als "Institution mit neurotischen Strukturen und mit Selbstbeschädigungstendenz".

Psychisches Leiden wird auch heute noch allzu oft als persönliche Schwäche abgetan und so aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt. Der derzeitige kollektive Ausnahmezustand und die unsichere wirtschaftliche Situation befördern Ängste, Depressionen, Belastungsstörungen und Suchtverhalten. Ein aufgeklärter und solidarischer Umgang mit Betroffenen und angemessene therapeutische Hilfe sind jetzt unerlässlich. (Marion Oberhofer, 4.6.2020)

Marion Oberhofer ist Kulturjournalistin in Bozen und Wien und bloggt für die Österreichische Mediathek.

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