Aktivistin Schmidt ist nicht überrascht von der Vorgehensweise Donald Trumps.

Foto: Frank Herrmann

Mehr als eine Woche nachdem George Floyd bei einem Polizeieinsatz sein Leben verloren hat, gehen in den USA die Proteste gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt unvermindert weiter. Jalane Dawn Schmidt, Dozentin für afroamerikanische Studien an der University of Virginia, zieht historische Parallelen und warnt vor einer autoritären Wende im Land.

STANDARD: Was erleben wir gerade? Ist es ein zweites 1968, ein Jahr, in dem Amerika in heftigen Unruhen versinkt?

Schmidt: Auf jeden Fall steuern wir wohl auf einen heißen Sommer zu, und das meine ich nicht nur klimatisch. Was George Floyd widerfuhr, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es ist nur ein Fall von mehreren, aber hier gibt es ein Video, das sich nun mal nicht leugnen lässt. Wie Polizisten unbewaffnete Afroamerikaner töten, das haben aber allein in diesem Jahr schon etliche andere Fälle gezeigt.

STANDARD: Welche empfinden Sie als besonders verstörend?

Schmidt: Da wäre Breonna Taylor, eine 26-Jährige, die in der Notaufnahme einer Klinik in Louisville in Kentucky arbeitete. Im Kampf gegen das Coronavirus steht sie an vorderster Front, und dann wird sie in ihrem eigenen Apartment durch Polizistenschüsse getötet. Sie wohnte dort zusammen mit ihrem Freund. Der hielt die Eindringlinge, die ohne Vorwarnung die Wohnungstür aufbrachen, für Einbrecher und griff zur Waffe. Die Polizisten erschossen dann Breonna Taylor. Später stellte sich heraus, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Die Beamten hatten einen Haftbefehl, doch die Person, die sie verhaften wollten, befand sich bereits in Polizeigewahrsam. Hier gab es keinen filmischen Mitschnitt, der den Beweis für die Tat erbracht hätte.

STANDARD: Was, glauben Sie, wäre geschehen, wenn es kein Video gegeben hätte, das die Causa George Floyd dokumentiert?

Schmidt: Dann hätte es in Minneapolis vielleicht für ein paar Tage Proteste gegeben, lokal begrenzt, ohne dass es landesweit für Aufruhr gesorgt hätte. Nach kurzer Zeit wären sie wahrscheinlich abgeebbt. Aber wie gesagt, angesichts der schockierenden Aufnahmen sind viele zu dem Schluss gekommen: Jetzt reicht's! Dabei steht der Fall Floyd für ein systemisches Problem. Er ist ein besonders krasses Symbol für etwas, was überall bei uns geschieht.

STANDARD: Noch einmal zurück zum Ausgangspunkt: Ist der Vergleich mit 1968 gerechtfertigt?

Schmidt: Ja, ohne Zweifel. Um nur einen Aspekt zu nennen: Wie 1968 ist auch 2020 ein Präsidentschaftswahljahr, und in solchen Jahren liegt meist sehr viel Spannung in der Luft. Aber ich sehe natürlich auch Unterschiede.

STANDARD: Welche zum Beispiel?

Schmidt: Damals versuchte Präsident Lyndon B. Johnson die Wogen zu glätten. Heute erleben wir einen Präsidenten mit verantwortungsloser Rhetorik. Donald Trump schürt die Spaltung, auch die zwischen den Rassen, so war das schon immer. Schon als er im Immobiliengeschäft anfing, sah sich das Justizministerium veranlasst, gegen ihn vorzugehen, weil er schwarze Mieter diskriminierte. 1989, als die Central Park Five, fünf Jugendliche mit dunkler Haut, zu Unrecht wegen der Vergewaltigung einer Joggerin im New Yorker Central Park verurteilt wurden, forderte er in ganzseitigen Zeitungsannoncen die Wiedereinführung der Todesstrafe. 2016 nutzte er in Staaten wie Michigan, Pennsylvania und Wisconsin die latenten Ängste weißer Wähler vor dem demografischen Wandel, vor dem sozialen Abstieg, um die Wahl für sich zu entscheiden. Das wird er ein zweites Mal tun. Einiges unterscheidet sich aber auch positiv vom Jahr 1968.

STANDARD: Was haben Sie dabei im Auge?

Schmidt: In großen Städten, etwa in Washington, in Atlanta oder in Birmingham in Alabama, sitzen heute schwarze Bürgermeisterinnen beziehungsweise Bürgermeister in den Rathäusern. 1968 schien das undenkbar, da waren doch erst drei Jahre seit Verabschiedung der Bürgerrechtsgesetze vergangen.

STANDARD: In Atlanta suchte die weiße Polizeichefin den Dialog mit schwarzen Demonstranten.

Schmidt: Darin sehe ich ein Hoffnungszeichen, auch wenn es vorerst noch die Ausnahme ist. Ich wünschte, es würde Schule machen. Was für ein Signal! Da kommt die Chefin der Polizei und signalisiert den Leuten: Ich höre euch zu, ich versuche euch zu verstehen, ich fühle euren Frust. Normalerweise marschiert ja gleich eine bis an die Zähne bewaffnete, militarisierte Truppe auf. Und das provoziert nur, während eine Geste wie in Atlanta hilft, die Situation zu entschärfen. Aber wissen Sie, was mir große Sorgen macht?

STANDARD: Was?

Schmidt: Ich mache mir Sorgen um die Wahl im November. Trump könnte so weit gehen und versuchen, sie abzusagen, zu verschieben. Das Blatt scheint sich gerade gegen ihn zu wenden, und er ist sehr autoritär. Nehmen Sie nur seine Ankündigung, die Antifa als Terrororganisation einzustufen. In seinen Augen fällt jeder, der gegen ihn ist, unter die Rubrik Antifa. (Frank Herrmann, 3.6.2020)