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Zurückhaltung kennt Mary MacLane keine, warum sollte sie auch? Schließlich schreibt sich hier jemand mit glühendem Temperament die Seele frei und beweist dabei auch noch eine gute Portion Humor. "Ich bin ein Genie, eine Diebin, eine Lügnerin – eine moralische Vagabundin von Grund auf, mehr oder weniger eine Närrin und eine Philosophin der peripatetischen Schule. Ich finde auch, dass selbst diese Kombination niemand glücklich machen kann."

Wer sich auf diese Weise vorstellt, hat mit der Welt noch einiges vor. Ausgehungert von ihrem bisherigen Leben beschließt Mary MacLane, sich lautstark Gehör zu verschaffen. Es geht wohlgemerkt um eine junge Frau von 19 Jahren am Anfang des 20. Jahrhunderts. Sich von sozialen Fesseln befreien und selbst bestimmen zu wollen, das galt damals als ziemlich ungehörig, als so provokant wie selbstsüchtig.

Ein "Napoleon" unter den Frauen

Ich erwarte die Ankunft des Teufels heißt dieses Tagebuch, das die in Butte, Montana, lebende Kanadierin drei Monate lang führte. Sie begriff es als Selbstporträt, als Bekenntnis ihres nackten, nichtigen Lebens. "Ich habe die Persönlichkeit, die Anlagen eines Napoleon, wenngleich in einer weiblichen Version. Daher erobere ich nicht; ich kämpfe nicht einmal." Mit dem Feldherren, dem sie sich in ihrer Fantasie auch in die Arme wirft, teilt sie auf jeden Fall das Talent, über bestehende Begebenheiten hinaus zu denken.

Mary MacLane, "Ich erwarte die Ankunft des Teufels". Aus dem Amerikanischen von Ann Cotten. 18,50 € / 206 Seiten. Reclam, Stuttgart 2020
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Unter einem zahmeren Titel wurde ihr Buch dann verlegt und geriet zur Sensation. Schon im ersten Monat wurden 100.000 Stück verkauft. "MacLaneism" wurde zum Synonym für Rebellinnen, sie zum Prototyp des "Bad Girl" – wie verdorben sie ist, das kann sie gar nicht oft genug hervorheben. Wie Baudelaire findet sie im Bösen eine vollkommenere Natur. Alles Tugendhafte erscheint ihr verachtungswürdig.

Mary MacLane sei ein eindrucksvolles Beispiel für einen Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen neuen Frauentypus, schreibt die Autorin Ann Cotten in ihrem Nachwort, der die in den USA stark verankerte Idee des selbstermächtigten Denkens auch praktisch umzusetzen gedachte. Cotten hat MacLane nun erstmals ins Deutsche übersetzt, ein Glücksfall für deren eruptiven und zugleich erstaunlich durchrhythmisierten Schreibstil. Nachdem der Ruhm der "Wild Woman of Butte" – abgesehen von einer feministischen Rezeption in den den 1970ern – langsam wieder verblasste, wird sie nun endlich international wiederentdeckt.

Schonungslos und voller Abscheu

Was an MacLane noch immer frappiert, ist ihre Unbedingtheit und Schonungslosigkeit. Nicht nur den eigenen, ungestillten Sehnsüchten gegenüber, zu denen neben dem schon erwähnten Napoleon und dem Teufel auch ihre Highschool-Lehrerin Fannie Corbin zählt, die sie zärtlich "Anemonendame" nennt. Ungleich härter mutet ihr Blick auf den Stumpfsinn einer Gesellschaft an, die sich an Äußerlichkeiten hält. In einer Art Stoßgebet zählt sie einmal all die Dinge auf, die sie verabscheut: "Von weichen alten Junggesellen und Witwern; von jeglichem männlichen Exemplar, das eine blassblaue Krawatte trägt; von unerträglichen Vortragenden, die 'Heute gibt es keine Ausgangssperre' rezitieren (...): gütiger Teufel, erlöse mich."

Als MacLane von ihrem Freiheitswunsch schrieb, verzehnfachte sich in Butte aufgrund der Kupferminen die Einwohnerzahlen. Sie ahnte, dass ihr in dieser Aufschwungzeit als Frau nur wenige Rollen zugedacht waren – "der verpestete Name", den sie wie ein Brandzeichen trage, "heißt Frau", schreibt sie. Doch die Leidenspose hält nie lange, und sie geht in den Angriffsmodus über: Weil sie sich nahm, was sie brauchte, erklärt sie Messalina Valeria, die habgierige Frau von Kaiser Claudius, zum Vorbild. Wer sich hingibt und wer alle Hemmungen ablegt, gilt ihr gleich viel.

Natürlich ist das die Erfindung eines Selbst, bei der der jungen Autorin manchmal auch ihr Pathos durchgeht. Aber sie beweist bei allem Drang zur Selbstermächtigung auch Witz, wie ihre Hymnen auf körperliche Freuden demonstrieren. Erwähnenswert: ihre Ode an die eigene Leber, gewaschene Füße oder an ein Porterhouse-Steak mit Frühlingszwiebeln – "die Farbe der Welt ändert sich, das Leben löst sich in zwei Dinge auf". (Dominik Kamalzadeh, 3.6.2020)