Schwere Infektionen der Atemwege gibt es schon seit Menschengedenken – sie werden von unterschiedlichen Viren und Bakterien ausgelöst, und diese wurden schon bekämpft, lange bevor es Impfungen und Antibiotika gab. An der Universität Wien kombiniert man nun traditionelles Wissen aus alten Schriften mit hochmodernen Methoden, um mögliche neue Wirkstoffe gegen diese Plagen zu finden.

Judith Rollinger vom Department für Pharmakognosie der Universität Wien arbeitet seit rund 15 Jahren auf dem Gebiet der Ethnopharmakologie, eines Forschungszweigs, der sich mit der Verwendung von Pflanzen in der Volksmedizin beschäftigt. Seit zehn Jahren etwa liegt ihr Schwerpunkt dabei auf Erregern respiratorischer Erkrankungen, zum Beispiel Influenza-Viren und den Schnupfen verursachenden Rhinoviren.

Die Zitronenmelisse....
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Mit finanzieller Unterstützung durch den Wissenschaftsfonds FWF durchforsteten Rollinger und ihre Arbeitsgruppe, darunter Ulrike Grienke und die Virologin Michaela Schmidtke aus Jena, bis zu 2000 Jahre alte Texte, wie etwa De materia medica des griechischen Militärarztes Pedanios Dioskurides.

Etabliertes Forschungsfeld

"Dioskurides ist mit dem Heer im Römischen Reich weit herumgekommen und hat dabei alles aufgezeichnet, was in den verschiedenen Regionen an Heilmitteln verwendet wurde", erzählt Rollinger. Zusätzlich arbeitete sich die Forschungsgruppe auch durch Werke der Volksheilkunde und der Traditionellen Chinesischen Medizin.

Das klingt exotischer, als es wirklich ist: "Die Ethnopharmakologie ist ein gut etabliertes Forschungsfeld", versichert Rollinger. "Das Besondere ist allerdings, dass wir dieses traditionelle Wissen mit modernen chemometrischen und chemoinformatischen Methoden verknüpfen. Rund 300.000 Naturstoffe sind bisher identifiziert worden, und wir können diese Molekülstrukturen virtuell nach potenziellen Bindetaschen absuchen. Die Verknüpfung des empirischen Wissens aus der traditionellen Medizin mit Big-Data-Science ist bestens geeignet für das Aufspüren von Wirkstoffen", sagt Rollinger mit einer spürbaren Begeisterung.

Bindetaschen des Proteins

Um dieses Gefühl nachvollziehen zu können, muss man zuerst einmal wissen, was Bindetaschen sind: Das sind spezielle Stellen an einem Zielprotein, wie zum Beispiel einem Enzym oder einem Rezeptor, an denen eine Interaktion mit einem anderen Stoff, etwa einem Arzneimittel, möglich ist. Es gibt verschiedenste Bindetaschen, und in jede passen nur bestimmte Molekülstrukturen, ähnlich wie sich ein Schloss nur mit dem passenden Schlüssel öffnen lässt.

Diese passenden Moleküle nennt man Liganden, ihr Andocken in der Bindetasche kann verschiedene Effekte hervorrufen: So können die entsprechenden Zielproteine in ihrer Aktivität blockiert oder stimuliert werden. Kennt man die dreidimensionale Struktur der Bindetasche und im besten Fall auch noch Liganden davon, kann man mit diesem Wissen Modelle generieren, die bei virtuellen Screeningverfahren aus zigtausenden Strukturen neue potenzielle Liganden vorhersagen können.

Dank der mittlerweile erreichten Leistungsfähigkeit von Computern kann man so in kurzer Zeit vielversprechende Arzneistoff-Kandidaten identifizieren.

Wirkung gegen Grippe

Das Interesse der Forscher galt dabei vor allem der Bindetasche der Influenza Neuraminidase, kurz NA. Es handelt sich dabei um eine Familie von Enzymen, die unter anderem in einigen Viren und Bakterien vorkommen, für deren Vermehrung sie notwendig sind. Nach ihren Studien der alten Quellen und dem entsprechenden Screening hatten Rollinger und ihre Gruppe knapp 30 Pflanzen- und Pilzextrakte identifiziert, die die Influenza NA blockierten und somit eine Wirkung gegen Grippe versprachen.

..... und der gewöhnliche Beifuß gelten seit Generationen als Heilpflanze. Letzterer hat aber giftige Stoffe und ist daher in hoher Dosis bedenklich.
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In Zellkulturen verglichen die Virologen aus Jena danach die Leistung dieser Substanzen mit derjenigen von Oseltamvir, einem synthetisch erzeugten Arzneistoff, der im bekannten Grippemedikament Tamiflu enthalten ist. Wie sich herausstellte, waren die pflanzlichen Mittel oft nicht so effektiv wie die synthetischen, hatten aber einen großen Vorteil: Gegen Oseltamvir bilden sich sehr rasch Resistenzen, gegen die Pflanzenstoffe aber nicht, womit sich Rollingers Hoffnungen bestätigten.

Der Maulbeerbaum

Eine der Substanzen, die sich dabei als besonders vielversprechend erwies, stammt aus der Wurzelrinde des Maulbeerbaumes. Sie wirkt nicht nur an der NA-Bindestelle von Influenza-Viren, sondern auch an der von Pneumokokken, jenen Bakterien, die maßgeblich für eine Lungenentzündung verantwortlich sind. Laut Rollinger starben bei der Spanischen Grippe 95 Prozent der bereits durch die Grippe geschwächten Patienten an einer durch Pneumokokken verursachten Lungeninfektion.

In einem aktuell geplanten Projekt wollen Rollinger und ihre Mitarbeiter 160 altbewährte Heilpflanzen auf ihre Wirksamkeit gegen das Coronavirus überprüfen. Ein anwendbares Medikament steht dabei freilich noch lange nicht zur Diskussion, weil der Zulassungsprozess jenseits der finanziellen Möglichkeiten eines Uni-Institutes liegt, aber es werden die Grundsteine dafür gelegt und Wissen generiert, das der Öffentlichkeit zugutekommen soll.

"Wir werden zu einem großen Teil von der öffentlichen Hand finanziert. Da ist es nur recht und billig, dass wir unsere Ergebnisse publizieren und sie anderen Forscherinnen und Forschern frei zugänglich machen", sagt die Wissenschafterin.

Phytopharmaka

Kaum jemand weiß übrigens, dass immerhin rund 60 Prozent der heute zur Verfügung stehenden Medikamente direkt aus Naturstoffen stammen oder zumindest davon abgeleitet sind, der Rest sind Synthetika. Wenn man in der Apotheke etwas "rein Pflanzliches" verlangt, werden Phytopharmaka angeboten.

Dabei handelt es sich immer um ein Gemisch aus mehreren Stoffen, wie Rollinger aufklärt, aber es sind echte Arzneimittel, das heißt, sie durchlaufen ein entsprechendes Zulassungsprozedere und unterliegen wie jedes andere Medikament den strengen Qualitätskontrollen der Arzneimittelbehörde.

Das beinhaltet auch, dass sie auf pharmazeutische Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit geprüft sind. Um hier gleich ein häufig auftretendes Missverständnis aufzuklären: Nahrungsergänzungsmittel, Bachblüten und homöopathische Mittel sind keine Phytopharmaka. (Susanne Strnadl, 6.6.2020)