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Caspar David Friedrich und der seherische Ausblick auf die emotionale Vergletscherung: "Das Eismeer" (1823/24).

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Den Überresten der Menschheit wird etwa zur Mitte des 24. Jahrhundert einigermaßen übel mitgespielt. Ein unermesslich großer Komet droht die Erde auszulöschen. Durch das Zusammenwirken von Hightech-Unternehmen entsteht eine letzte Arche: Das interstellare Flugschiff soll nicht nur ein paar ausgewählte Prachtmenschen nach Unbekannt verfrachten. Elaine Duval, Genetikerin mit grönländischen Wurzeln, ist mit der heiklen Aufgabe betraut, diverse Tier- und Pflanzenarten an geeigneter Stelle zu gattungsspezifischem Leben zu erwecken.

Die Zuchtstätte für das Projekt "Schöpfung neu" ist nur leider Gottes das unwirtlichste Biotop, das sich denken lässt. Wäre Romancier Michael Stavarič ein Maler, er hätte sich für die womöglich schwerste aller Aufgaben entschieden: für den Auftrag unendlich vieler Schichten Deckweiß auf gähnend leerer Leinwand.

Boden der Tatsachen

"Fremdes Licht", sein neuer, ehrgeiziger Roman, handelt vom Leben und Halluzinieren im ewigen Eis. Elaines Bruchlandung, der Ausgang aus einer ewigen Kreisbewegung, führt sie zurück in die Landschaft ihrer Kindheit. Der Permafrostboden der Tatsachen ist hart. Auf ihm hatte sie einst gelernt, den Anweisungen des Großvaters Folge zu leisten und die Überlebenstechniken der grönländischen Inuit geduldig einzustudieren. Der Eiswind pfeift ohrenbetäubend, und weil sich die letzte Repräsentantin der Menschheit irgendwie heimgekommen wähnt, nennt sie ihre neue Heimat einfachheitshalber "Winterthur".

Der ewige Kreislauf von Untergang und Neuschöpfung bildet die mythische Folie von "Fremdes Licht". Elaines einsamer Blindflug in die Zukunft folgt der Inuit-Überlieferung: Unermüdlich zitiert Stavarič Wörter und Begriffe aus dem Inuktitut. Der Leser erlebt ein subpolares Delirieren in einer Welt, die geistig ab minus zwanzig Grad erst so richtig auftaut.

Der Ehrgeiz des Autors zielt jedoch höher. Sein Buch ist kein "Perry Rhodan"-Heft. Die Menschheit besitzt den Schatz der Überlieferung: Die genetische Rekonstruktion der Arktis-tauglichen Fauna hat sich ausgerechnet Franz Kafka ausgedacht! Der Apparat, den Elaine getreu der Anleitung mit "Nährmasse" befüllt, um Tiere aus dem Förmchen zu kippen und in die Freiheit zu entlassen, ähnelt verdächtig dem nadelspitzen Prägeinstrument aus In der Strafkolonie. Die Wissenschaft der Zukunft wurde offenbar in Gen-Labors der Prager Literatur entworfen.

Es ist aber die weiße, monochrome Umgebung, die Stavarič zum erzählerischen Experimentieren anstiftet. Einige Zeit vor Corona lag das Thema Isolation offenbar in der beißend kalten Luft; "Fremdes Licht" schildert mit Seitenblick auf die Jagdgesellschaft der Inuit ein Leben, das sozial haltlos geworden ist. Es kennt nur trotzdem keine extremen Ausschläge auf der emotionalen Skala. Und so scheint Stavarič‘ Versuchsanordnung manches von der Benommenheit vorwegzunehmen, die die Quarantäne bei vielen akut Isolierten ausgelöst hat.

Die Alten im Eis

Die Wiederkehrer in einer (beinahe) kältetoten Welt nennen die Inuit "Teryki": "nicht mehr Mensch und noch nicht Geist". Gemeint sind damit Alte, die früher einmal von ihren Angehörigen auf Eisschollen gesetzt und, zum Zwecke der Auslöschung, den Gezeiten des Meeres anheim gegeben wurden. Manche indes verschmäht das Eismeer. Überhaupt ist nicht alles nachahmenswert, was Gesellschaften, die klimatisch permanent unter Stress stehen, im Umgang mit den Schwächsten praktizieren. Dagegen besteht der Sinn von Literatur häufig genug in der Neuverwertung der immer gleichen Spukgestalten und Schemen.

Die Eisbären der Zukunft sind die Ungeheuer der Vergangenheit: Diese Erkenntnis muss in der schlittenziehenden Neo-Kolonisatorin Elaine mühsam heranreifen. Dabei setzte die Menschheit, die anno 2345 mehrere katastrophale "Lichtkriege" hinter sich hat, in die künstliche Erzeugung von Glanz und Wärme einst große Hoffnungen. Es ist ausgerechnet das hohe 19. Jahrhundert, das das ewige Eis zum Schmelzen bringt.

Im Tone alter Reisechroniken berichtet Stavarič plötzlich vom norwegischen Forscher Fridtjof Nansen. In dessen Obhut reist die Inuk "Uki" 1893 nach Süden, genauer gesagt zur Weltausstellung nach Chicago. Dort, am Ufer des Lake Michigan, lassen sich Elektrizitätsentdecker wie Nikola Tesla vor staunendem Publikum vom Strom durchrieseln. Künstliche Vulkane speien Gift und Konfetti, und inmitten einer vom eigenen Zukunftsfrohsinn wie besoffenen Gesellschaft lauern die absurdesten Gefahren.

Seine Figuren hat Stavarič allesamt aus kryonischem Kälteschlaf gerissen. Nicht alle hat er mit den gleichen Quanten an Vitalität bedacht. Aber sein verblüffender Roman zielt erstaunlich weit hinaus, ins kalt Geschaute, klar Gedachte, hinein ins froststarrende Herz gesellschaftlicher Einsamkeit. (Ronald Pohl, 4.6.2020)