Janina Vivianne, 29, aus Wien und Olivier Dieleman, 32, aus Brüssel leben in einer offenen Beziehung. Sie haben sich letztes Jahr in der Sex-Positiv-Szene in Berlin kennengelernt.

Foto: Robin Neefs

Die Stolpersteine einer monogamen Beziehung kennt jeder, die Scheidungsrate in Österreich spricht für sich. Nicht selten enden Beziehungen, weil einer der Partner untreu ist. Warum also nicht gleich offen ausleben, was ohnehin schwer zu verhindern ist?

Im Gegensatz zur Hippiebewegung in den 68ern, die Liebe von jeglichem Besitzdenken befreien wollte und dann häufig an der utopischen Vorstellung einer eifersuchtsfreien Gesellschaft scheiterte, wird freie Liebe heute nach Konzept gelebt: Anhänger der Polyamorie, der Mehrfachliebe, halten sich an Regeln – wie in monogamen Partnerschaften. Und auch in offenen Beziehungen sind Ehrlichkeit und Kommunikation häufig fest vereinbart. Vier Menschen erzählen.

Janina: "Olivier und ich lieben uns – und andere!"

Janina Vivianne (29) aus Wien ist Sex-Positive-Aktivistin und Event-Organisatorin:

"Ich wusste schon mit vierzehn Jahren, dass Monogamie nichts für mich ist, und hatte als Teenie drei Freunde gleichzeitig. Zwar gab es in meinem Leben immer wieder monogame Phasen, aber das Bedürfnis, mit mehreren Menschen gleichzeitig in einer emotionalen und sexuellen Verbindung zu sein, war am Ende immer größer, daran sind einige meiner Exbeziehungen gescheitert.

Mit Olivier ist das anders. Mit ihm lebe ich den Hippietraum: Wir haben Sex, mit wem und wann wir möchten – getrennt oder zusammen mit anderen. Trotzdem ist er mein Hauptpartner und der einzige Mann, den ich liebe.

Klar gibt es auch in offenen Beziehungen Eifersucht. Gerade in der Corona-Krise war das echt schwer, da ich während des Lockdowns in Wien und Olivier in Brüssel saß. Ich habe einen anderen Mann über Tinder kennengelernt, der mein Quarantäne-Buddie wurde. Da helfen offene Gespräche: Wir haben uns einfach alles in stundenlangen Gesprächen via Webcam erzählt. Wir kennen mittlerweile gute Strategien, um mit Eifersucht umzugehen. Oft sind diese negativen Gefühle ja nur ein Spiegel einer eigenen Unsicherheit. Wenn bei mir Eifersucht aufkommt, nehme ich mir erst mal einen Moment und beobachte, woher sie überhaupt kommt. Wenn das nicht reicht, dann spreche ich mit Olivier. In unserer Beziehung gibt es keine Geheimnisse oder Tabus. Wir erzählen uns einfach alles.

Früher habe ich auch polyamor gelebt, doch das war für mich mit Regeln verbunden und hat mich wiederum eingeschränkt, während es in der Beziehung zwischen mir und Olivier nur zwei einfache Abmachungen gibt: Safer Sex und Ehrlichkeit.

Diese Ehrlichkeit zieht sich durch mein gesamtes Leben. Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich frei liebe. Früher war es mir immer peinlich, offen über meine sexuellen Wünsche und Träume zu sprechen. Nun veranstalte ich das Parallel-Universe-Event* für Sex-Positivität, bin in der Erwachsenenbildung tätig und bekomme viel positives Feedback dazu. Einmal waren sogar Oma und Opa bei einem Infoabend dabei, an dem ich einen Vortrag darüber hielt, wie man Safer Sex zu mehrt hat. Meine Mutter hilft hin und wieder bei meinen Parallel-Universe-Events vor Ort. Die sind da wirklich eine Unterstützung und interessiert; das gibt mir das Gefühl, es richtig zu machen."


Tom & Dora: "Wir daten trotz Kids auch andere"

Tom Sayé (37) aus Wien ist Physiker und zweifacher Vater:

"Wir haben einen zweijährigen Sohn, das nächste Kind ist auf dem Weg, und wir führen eine offene Beziehung. Für uns schließt das eine eben das andere nicht aus. Aber von Anfang an: Dora und ich lernten uns vor fünf Jahren über ein Swinger-Dating-Portal kennen. Damals war Dora in einer Beziehung mit einem anderen Mann. Wir lebten also eine Zeitlang zu dritt in einer Beziehung. Die Verbindung zu dem anderen Mann war aber nicht tief genug, als dass es für eine längerfristige, tiefe Dreierbeziehung gereicht hätte. Zudem verspürte Dora einen immer größer werdenden Kinderwunsch, den der andere Partner nicht erfüllen wollte. Für Dora und mich war klar: Wir wollen Kinder und dennoch sexuell frei sein. Und so leben wir nun: Wenn wir das Bedürfnis haben, andere zu daten, dann machen wir das. Sogar während der Schwangerschaften, wenn Dora hormonell bedingt keine Lust auf Sex hatte, habe ich immer wieder mal Frauen gedatet, um meine sexuelle Lust zu stillen. Dora hat mich regelrecht dazu motiviert, denn dadurch lag der Druck nicht bei ihr und sie konnte sich für mich mitfreuen. Als ich dann in Karenz war und hauptsächlich die Kinderbetreuung übernahm, hat Dora andere Männer getroffen.

Tom (37), Niklas (2) und Dora (35) aus Wien. Das Paar hat sich über ein Swinger-Dating-Portal kennengelernt. Einen Tag nachdem dieses Foto für den STANDARD entstand, kam ihr zweites Kind zur Welt.
Foto: www.corn.at Heribert CORN

Von der Einstellung her sind wir eigentlich polyamor – was bedeutet, dass es auch erlaubt oder sogar erwünscht ist, dass wir uns in andere verlieben. Wir fänden es wirklich schön, wenn es noch jemanden gibt, der in unsere Beziehung kommt.

Das befreiende an unserer Beziehung ist, dass es keine Wünsche oder Bedürfnisse gibt, die "falsch" sind. Mag sein, dass der andere damit nichts anfangen kann, dann hat er aber jederzeit die Freiheit, dem nachzugehen. Das ist nicht immer leicht, und es gehören auch negative Gefühle dazu – aber am Ende gehen wir als Paar nur noch stärker aus solchen Prozessen hervor."


Michael & Angelika: "Auch Monogamie macht frei!"

"In der Vergangenheit haben wir beide nach unseren Scheidungen in Beziehungsmodellen gelebt, die augenscheinlich frei waren, aber im Endeffekt immer ein einengendes Gefühl hinterließen. Als wir uns dann 2012 kennenlernten, erlebten wir erstmals eine Liebe, in der wir Freiheit ganz anders erlebten: Es ist diese innere Sicherheit, Verbundenheit und Stabilität, die es uns erlaubt, uns so frei wie noch nie zu fühlen. Es gibt in unserer Beziehung keine Geheimnisse, keine Tabuthemen. Wenn es etwa eine Anziehungskraft zwischen Angelika und einem anderen Mann gegeben hat, haben wir das offen besprochen und gemeinsam ergründet, was dahintersteckt. Wir haben oft stundenlang geredet und reflektiert.

Michael (57) und Angelika (44) Limani sind seit acht Jahren ein Paar und Beziehungscoaches mit eigener Praxis im 13. Wiener Gemeindebezirk.
Foto: www.corn.at Heribert CORN

Mittlerweile sind wir als monogames Paar sehr gewachsen und begleiten seit einigen Jahren als Berater auch andere bei ihrem Entwicklungsprozess. Dazu gehört in erster Linie das Aufspüren und Lösen von Glaubenssätzen, Projektionen oder Prägungen. Unser Motto lautet: Tief verbunden und unendlich frei."


Freya: "Ich mache meine Liebe nicht vom Geschlechtsausdruck abhängig.""

Freya (29) aus Wien ist Umweltwissenschafterin und Coach für Körperbewusstsein:

"Ich habe immer gespürt, dass ich die Fähigkeit besitze, mehrere Menschen zu lieben. Früher wusste ich nicht, welche Formen es dafür geben kann, und habe irgendwann eine offene Beziehungen ausprobiert. Damit bin ich aber schnell an Grenzen gestoßen. Die Partnerperson wollte beispielsweise maßgeblich vorschreiben, was mit anderen geht und was nicht. Das hat mit Vertrauen und echter Liebe für mich heute wenig zu tun. Ich halte es immer noch für wichtig, die Grenzen des/der anderen zu achten und einander nicht zu überfordern, aber pauschale Verbote ohne konsensuelle Aushandlung des gemeinsamen Weges zeigen ein Machtverhältnis auf, dem ich mich nicht unterordnen möchte.

Freya (29) aus Wien bezeichnet sich selbst als nichtmonogam und bi-/pansexuell.
Foto: Daniel Gitau

Wenn ich gefragt werde, wie ich lebe und liebe, dann sage ich: Nichtmonogam und bi- bzw. pansexuell. Eine Definiton des urban dictionary für "polyamor pansexuell" zeichnet dazu ein schönes Bild: "A person who loves without limits." Das ist meine Idealvorstellung – und so bin ich auch aufgewachsen. Man kann sich das wie ein Leben in einer Hausgemeinschaft vorstellen, in der jeder Mensch einen großzügigen eigenen Rückzugsraum hat und wo gleichzeitig viele Begegnungsräume bestehen. Verschiedene Generationen treffen sich hier, bunte Verbindungskonstellationen sind möglich – freundschaftlich, mit oder ohne sexueller Ebene, immer familiär. Schließlich liebt man ja ganz unterschiedliche Dinge an und mit unterschiedlichen Personen.

Als pansexuelle Person mache ich meine Liebe auch nicht vom Geschlecht abhängig. Warum sollte ich erst entscheiden, ob ich mich für eine Person interessiere, wenn ich erfahren habe, was sich unter der Unterwäsche befindet? Das war mir schon immer fremd.

Von Menschen, die bislang wenig mit dem Thema Polyamorie zu tun hatten, kommt des Öfteren die Ahnung, dass dann jede/jeder egoistisch einfach mit allen macht, wonach ihr/ihm ist. Genauer betrachtet bedeutet konsensuelle Nichtmongamie aber, dass alle Karten offen auf den Tisch gelegt werden und Meinungsäußerungen dazu, das Ausdrücken von Gefühlen und ein liebevoll-achtsamer Diskurs explizit erwünscht sind. Es ist übrigens auch möglich, sich als polyamor zu bezeichnen, wenn man sich derzeit in keiner Partnerschaft befindet. Genauso wie eine Person bisexuell sein kann, während sie sich in einer heterosexuellen Beziehung befindet. Eine Identifizierung steht für eine Fähigkeit, einen Wunsch, eine Absicht, nicht unbedingt den aktuell sichtbaren Stand der Dinge.

Mich hat das Buch "More Than Two" sehr inspiriert. Da wird klar, dass der Kern der Liebe hauptsächlich aus dem Spüren der eigenen Bedürfnisse und Grenzen sowie ehrlicher, wertschätzender Kommunikation besteht. Und noch ein Tipp: Die "map of non-monogamous relationships" von Franklin Veaux zeigt auf sehr anschauliche Weise, wie groß das Feld der Nichtmonogamie eigentlich ist – und bietet Navigationshilfe. Außerdem gibt es in jeder Stadt Vernetzungsorte für Interessierte, wo Rat, Anteilnahme und Austausch bereitgestellt werden."