Das passiert, wenn eine Stadtverwaltung offiziell zum Wahnsinn aufruft: Der Arbre Blanc in Montpellier bietet Aussicht auf insgesamt 193 Balkonplatten, die bis zu 56 Meter über Straßenniveau liegen. Der weiße Baum ist nur ein Beispiel von vielen auf der ganzen Welt, die sich vor allem an Wohnungssuchende ohne Höhenangst richten.

Foto: Cyrille Weiner

Wie ein weißer Baum, 17 Stockwerke hoch, die 193 Balkonplatten wie Äste und Zweige nach allen Himmelsrichtungen strebend, steht das sichtlich extrovertierte Haus am Ufer der Lez. Es macht so neugierig auf die Erkundung, dass man am liebsten daran hochkraxeln will wie dereinst auf den Baum in Großmutters Garten, im Versuch, es diesmal noch höher hinauf zu schaffen und den Stamm noch zwei, drei Äste weiter zu erklimmen als im Sommer zuvor.

Der Arbre Blanc im südfranzösischen Montpellier ist unter den zeitgenössischen Wohntürmen das wohl sinnlichste und wahnwitzigste Beispiel dafür, wie wichtig und unverzichtbar der private Freiraum in selbst schwindelerregenden Hochhausgefilden geworden ist.

Der gebaute Wahnsinn hat in Südfrankreich Tradition. Schon im 18. Jahrhundert stellten die Folies montpelliéraines, die sogenannten Narren von Montpellier, den Reichtum und die eigene Dekadenz zur Schau, indem sie rund um die Stadt sich in Verrücktheit überbietende Lustschlösser auf ihre Landsitze stellen ließen.

Was gestern dem hedonistischen Adel vorbehalten war, soll nun zum Programm für die gesamte kommunale Bevölkerung werden. 2013 rief die Stadtverwaltung die Initiative Folies du XXIe siècle aus und forderte die Menschen auf diese Weise zur Narrenfreiheit des 21. Jahrhunderts auf. Eines der Resultate, knorrig verspielt in den Himmel ragend, ist der weiße Baum am Lezkanal.

Carte blanche

"Noch nie zuvor hat eine Stadtverwaltung offiziell zu architektonischer und baukultureller Narrenfreiheit ausgerufen", erklärt Dimitri Roussel, Chefarchitekt des Pariser Büros Dream Architectes. "Es gab keine Spielregeln, keine Vorschriften, ja nicht einmal eine Bauordnung, an die man sich minutiös zu halten hatte. Wir hatten eine komplette Carte blanche."

Gemeinsam mit den Partnerbüros Nicolas Laisné und Oxo Architectes sowie mit dem japanischen Architekten Sou Fujimoto entwarf Roussel ein Wohnhaus mit insgesamt 113 Wohnungen für den freien Markt. Mit an Bord waren drei Investoren.

Die 26-geschoßigen Beirut Terraces von Herzog & de Meuron ragen 120 Meter in die Höhe.
Foto: Iwan Baan

"Die Balkone sind ein expressives Gestaltungsmittel", sagt Architekt Roussel. "Aber darüber hinaus handelt es sich um riesige private Freiräume, die bis zu sieben Meter aus dem Haus ragen. Gerade im Süden, wo die Menschen ihren Alltag traditionell auf der Straße verbringen, und gerade jetzt in Corona-Zeiten, die unseren klassischen Wohnbegriff nach vielen Jahrzehnten wieder neu definieren, ist dieses räumliche Angebot viel wert."

Konstruktiv möglich wird dies durch Stahlleichtbau: Wie abgespannte Schirmkappen hängen die Balkonplatten an der Aluminiumfassade, hinter der sich ein tragendes Gerüst aus Betonstützen verbirgt.

Schattige Gunst

Ob man da im Sommer nicht eine Sonnenbrille braucht, um nicht vom strahlenden Weiß geblendet zu werden? Roussell, frech französisch: "Wozu eine Sonnenbrille? Das ganze Haus besteht aus Balkonen und Schattenelementen, man sitzt quasi den ganzen Tag unter einem Sonnenhut." Damit diese schattige Gunst nicht nur auf wenige Minuten pro Tag beschränkt ist, haben die Architekten eigens Verschattungsstudien erstellt. Detail am Rande: Auf dem Dach findet man nicht ein teures Penthouse, sondern ein öffentlich zugängliches Café mit Blick auf die Stadt.

AAVP und Aires Mateus bauten in Clichy-Batignolles (Paris) ein schwarz-weißes Doppelhochhaus mit 50 Meter Höhe.
Foto: Luc Boegly

"Das Verhältnis des Menschen zum Hochhaus und zum Balkon hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert", sagt der Wiener Architekt Gerd Erhartt, Partner bei Querkraft Architekten. "Wohnen im Hochhaus, geschweige denn mit einem Balkon im 20. oder 30. Stock war früher etwas sehr Exotisches, doch mit dem Bevölkerungswachstum, mit der zunehmenden Verstädterung und mit den immer knapper werdenden Bodenressourcen haben wir uns an eine neue Normalität gewöhnt. Und wer nicht gerade Höhenangst hat, der freut sich über einen privaten Freiraum, ganz gleich, auf welcher Etage."

In der Seestadt Aspern, Parzelle J5A, errichtete Querkraft ein 14-stöckiges Wohnhochhaus mit bis zu drei Meter weit hinausragenden Betonbalkonen. "Natürlich wird man den Tisch nicht mit einem luftig leichten Seidentischtuch decken, und genauso wenig wird man einen Blumentopf auf die Brüstung stellen, denn die Windkräfte da oben können schon gewaltig sein", so Erhartt.

In der Seestadt Aspern wurde soeben der 14-stöckige Balkonturm von Querkraft Architekten fertiggestellt.
Foto: Lukas Schaller

Wie immer im Leben wird man sich als Bewohner auch hier den Möglichkeiten und Gegebenheiten des Ortes anpassen müssen. Doch dafür kriegt man abgehobenes Wohnerlebnis und eine spektakuläre Aussicht über die Seestadt."

Schattenspender

Ähnlich gigantisch sind die Aussichten auch in anderen Großstädten. In Paris plante Aires Mateus gemeinsam mit AAVP Architecture zwei Turmzwillinge in Schwarz und Weiß, die von einer Balkonmatrix umgeben sind, auf der sich ab und zu der Prototyp eines kleinen Einfamilienhauses verirrt hat. Im Libanon errichteten die Pritzker-Preisträger Herzog & de Meuron die 120 Meter hohen Beirut Terraces, auf denen die Terrassen wie eckige Eisschollen nach allen Seiten ragen.

Und in Ramat Gan, einer Großstadt vor den Toren Tel Avivs, plant das Salzburger Büro Studio Precht für einen deutschen Immobilienentwickler ein 32-stöckiges Wohnhochhaus mit einer geometrisch raffinierten, ineinander verschachtelten Terrassenlandschaft.

In Ramat Gan bei Tel Aviv plant Studio Precht dieses Terrassenhochhaus mit 32 Etagen.
Foto: Studio Precht

"Eines der wichtigsten Kriterien in einem Balkonhochhaus ist die Verschattung", sagt Chris Precht, der das Büro gemeinsam mit seiner Frau Fei Tang leitet. "Schon in Mitteleuropa kann die sommerliche Sonne erbarmungslos auf den Balkon knallen, umso dringlicher ist eine entsprechende Verschattung in südlichen Ländern." Sein Entwurf besteht aus dreidimensionalen Betonfertigteilen, die mit Sichtziegeln überzogen und vor Ort dergestalt raffiniert ineinandergreifen, dass sich die privaten Freiräume gegenseitig Schatten spenden.

"Die Wohnkosten steigen, die Wohnungen schrumpfen, und während die Zimmer mittlerweile so kompakt geschnitten sind, dass man in der Möblierung kaum noch Freiheiten hat, bleibt einem auf dem Balkon unbenommen, wie man ihn nutzt. Man faulenzt, man macht ein Candlelight-Dinner, man baut Rosen und Tomaten an – oder man schaut einfach hinunter auf die Stadt." (Rondo Exklusiv, Wojciech Czaja, 15.6.2020)