Haftbefehl richtet die Syntax zu, dass sie "ballert wie 'ne abgesägte Schrotflinte".

Foto: Universal Music

Sollte sich der 34-jährige Aykut Anhan alias Haftbefehl über einen Spiegel beugen und fragen: "Wer ist der Härteste im ganzen Schland?", wird das Spieglein brav antworten: "Ihr, mein König!"

Spiegel hängen in der Welt des Offenbacher Rappers nicht an der Wand, sie liegen auf dem Tisch. Darauf die Lebenslinien, die einen Gangster interessieren. Es geht um Schnee, nicht um Wittchen. "Gib mir eine Tonne weiße Ziegelsteine und ich baue ein Iglu / Ich hab’ mehr Weiß geseh’n als ein Eskimo. Wovon ich rede? Von Kilos Kokaino", heißt es gleich im ersten Track, Bolon, auf Haftbefehls neuem Opus, das passend betitelt wurde: Das weiße Album. Mit Spannung wurde es erwartet, immerhin ist es das Nachfolgewerk zum 2014 erschienenen Russisch Roulette, dem einflussreichsten Deutschrap-Album der jüngeren Zeit.

Azzlackz

Russisch Roulette begeisterte irgendwie alle: von den Kids aus dem Plattenbau, die in Haftbefehl ein Sprachrohr für ihr Milieu sahen, bis zum deutschen Feuilleton, das den Rapper rein sprachlich für das Beste hielt, was seit Goethe aus der Main-Gegend kam. Nach der Formel: Goethe war Poet, Haftbefehl ist dichter.

Lingua franca "Kanakisch"

Nicht nur lehrte Aykut Anhan die Jugend, wer und was ein Babo ist, der Soziolekt "Kanakisch", den er um Lehnwörter aus aller Herren Länder anreicherte, wurde für Deutschrap zur Lingua franca. Auch wie Haftbefehl die Syntax zurichtet, dass sie "ballert wie 'ne abgesägte Schrotflinte", wie er Worte bewusst falsch betont, um sie ins Reimschema zu pressen, ist einfach fantastisch. Anhan ist auch ein begabter Geschichtenerzähler, der mit wenigen Worten ("die Banken kratzen an den Wolken") starke Bilder evoziert. Seine besten Nummern sind kleine Blockbuster – von seinem Haus-und-Hof-Produzenten Bazzazian mit viel Wumms wie Filmmusik inszeniert.

Haftbefehl spricht von Milieus, in die viele seiner Hörer aus besseren Verhältnissen niemals Einblick erhalten werden, geschweige denn wollen. Doch fesselt sie nicht nur die verbotene Faszination für diese Welt aus Hass und halbautomatischen Waffen, sondern auch die universal menschlichen Themen, die Haftbefehl beschreibt. Das Leitmotiv aller seiner relevanten Nummern ist die Frage "Wie ein guter Mensch sein, wenn die Verhältnisse es fast unmöglich machen?". Dabei entzieht er sich natürlich gern jeglicher Verantwortung für sein Handeln. Im Endeffekt ist bei ihm immer der Teufel schuld, wenn mal wieder jemand auf die Fresse kriegt.

Ohne Straße ist die Luft raus

Was Haftbefehl auch auszeichnet, ist sein Spiel mit Widersprüchen. Da lästert er auf Morgenstern über Autotune, nur um das Tool in der nächsten Nummer selbst zu verwenden. Da macht er sich über klickjagende Rapper-Influenzer lustig, nur um dann erst recht mit jemandem wie Shirin David zusammenzuarbeiten (Conan x Xenia).

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Haftbefehl liebt es aber nicht nur zu verwirren, er hat sich überhaupt ganz der Autofiktion verschrieben. Die Geschichten, die er über sein Leben als jugendlicher Gangster schreibt, sind hochgradig stilisierte Chroniken aus seinem ganzen Umfeld, keine Biografie. Wo man Haftbefehl aber beim Wort nehmen sollte, ist beim vor allem im Frühwerk grassierenden Antisemitismus und dem allgegenwärtigen Sexismus. Darüber lässt sich weder im Sinne der Fiktion noch im Sinne der Milieustudie nach dem Motto "Er ist eh nicht so; er erzählt ja nur, wie seine Szene tickt" hinwegsehen. Wer Haftbefehl hören will, kann sein Talent nicht gegen seine Fehler aufwiegen, sondern hat zu akzeptieren: Er ist Schrödingers Rapper – gut und böse zugleich.

Sein neues Album orientiert sich an dem großen Vorgänger, Russisch Roulette. Beide Alben zählen 14 Nummern, beiden geben jeweils drei Tracks, die sich mit der Vergangenheit auf den Offenbacher Straßen beschäftigen, eine Struktur. Die übrigen Nummern handeln von der Gegenwart, die unspannend ausfällt. Ein grundsätzliches Problem von Gangster-Rap: Ab dem Zeitpunkt, an dem man erfolgreich ist und sich seine Zeit damit vertreiben kann, Schmuck zu kaufen (Ice), Vater zu sein (Papa war ein Rolling Stone) oder einfach für immer reich (Für immer reich), ist die Luft raus. Auf der Straße ist halt mehr Berichtenswertes los.

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So verwundert es nicht, dass der beste Track des neuen Albums einer der Rückblicke, 1999 Pt. 5 (Mainpark Baby), ist. Außer den pipifeinen Beats von Bazzazian hält Das weiße Album nicht besonders viel bereit, was den strahlenden Vorgänger Russisch Roulette und das solide Mixtape Unzensiert (2016) übertreffen könnte. Nein, es kommt leider nicht einmal ein bisschen an Früheres heran.

In 1999 Pt. 5 sagt Haftbefehl übrigens über sein neues Album, dass es das "beste, beste, beste" werden wird. Man muss ihm, wie gesagt, nicht alles glauben. (Amira Ben Saoud, 5.6.2020)