Kanzler Sebastian Kurz rief nach dem Kommunikations-GAU im Kleinwalsertal Österreichs Chefredakteure durch. Auf Matthias Cremers Foto telefoniert er als Wahlsieger am Wahlabend 2019.

Foto: Matthias Cremer

Wie Sebastian Kurz zum "Verwundeten" wurde. Wann Journalisten "zu wehleidig" sind. Wer am "aggressivsten" beim "Kurier" interveniert. Welcher TV-Infochef bisher keine Interventionen erlebte. Und welche Medienförderung Österreich bräuchte. Erkenntnisse aus einem "Talk" vier österreichischer Chefredakteure zur Aufarbeitung von Kanzler-Anrufen nach dessen distanzlosem Besuch im Kleinwalsertal.

"Intervention oder Information?"

"Blattkritik aus dem Kanzleramt" nannte der Presseclub Concordia seine Onlinedebatte am Donnerstagabend, um zu erkunden, ob des Bundeskanzlers Anrufe bei vielen Chefredakteuren und Innenpolitikchefs des Landes "Information oder Intervention" waren. Drei der Diskutanten hatte Kurz angerufen zum Kleinwalsertal.

Bezeichnend vor allem waren des Kanzlers Anrufe nach Kritik über den viral entglittenen Kurzbesuch für Hubert Patterer. Der Chefredakteur der "Kleinen Zeitung" hat die Blattkritik des Kanzlers in einem seiner Newsletter öffentlich gemacht, der Anlass dieser Debatte.

Die "Kleine Zeitung" titelte online am 14. Mai mit der Oppositionskritik am Besuch, der in so krassem Widerspruch zu allen wochenlangen Vorgaben und Erklärungen der Regierung über Distanz und Sicherheit in Zeiten von Corona stand.

"Hier spricht ein Verwundeter"

Patterer empfand den ersten Anruf des Kanzlers zu dieser Titelstory nicht als Intervention. Kurz habe versucht, das von der Opposition – "berechtigt heftig" – gezeichnete Bild zurechtzurücken. Patterer schreibt daraufhin einen "sehr deutlichen" Onlinekommentar. Kurz ruft neuerlich an, auch um auf einen faktischen Fehler hinzuweisen, berichtet Patterer.

Patterer hat "gemerkt, dass hier ein Verwundeter spricht", dass Kurz "etwas entglitten ist" und dass das dem Kanzler "ins Mark gegangen ist". Patterer wollte mit seiner Mail "nichts leaken", er wollte "diese Facette seiner Persönlichkeit zeichnen".

"Wahnsinnig obsessiv"

Kurz sei "wahnsinnig obsessiv auf das Bild bedacht, das medial von ihm gezeichnet wird", sagt Patterer. Stimmt dieses Bild nicht mit seinen Vorstellungen überein, "verliert er den Boden, die Souveränität". Kurz wolle auch "genau wissen, mit wem er es zu tun hat, wo gehört jemand hin, der ihn kritisiert. Wenn diese Einordnung nicht funktioniert, tut er sich schwer, weil er nicht weiß, wie er mit der Kritik umgehen soll." Patterer hat hier, am Kleinwalsertal, ein "Souveränitätsleck" beobachtet an jemandem, der "sonst sehr trittsicher und souverän agiert".

"Es hat ihn wirklich nervös gemacht", sagt Martina Salomon, Chefredakteurin des "Kurier". "Zu Recht", fügt sie an, "weil er kritisiert worden ist." Auch sie hat Kurz zum Kleinwalsertal angerufen, auch sie hat das "nicht als Intervention empfunden". Salomon hat "in 40 Jahren Journalismus extrem viele Interventionen erlebt". Sebastian Kurz und sein Umgang mit Medien seien "keine neue Qualität". Salomon sagt, sie glaubt, "die Verhaberung zwischen Politik und Journalismus war früher viel ärger als jetzt".

"Neue Empfindlichkeit" im Journalismus

Und Salomon konstatiert eine "neue Empfindlichkeit in unserer Branche". Interventionen gab es doch immer, es sei "Aufgabe der Chefredaktion, sie von uns zu weisen und die Redaktion davor zu schützen. Das ist nicht das Riesenproblem."

Patterer räumt einen journalistischen Reflex ein, als Kurz anrief: Er habe einen "inneren Sog verspürt dagegenzuhalten", in einer Schärfe der Formulierung, die er heute vielleicht nicht wählen würde. Dass ihm "Falter"-Chefredakteur Florian Klenk da "inszeniertes Heldentum" vorwarf, "möglicherweise zu Recht", fällt Patterer da gleich ein.

"Kalkül des Kanzlers"

Kurz hat nach dem Kleinwalsertal auch Andreas Koller angerufen, den Innenpolitikchef und stellvertretenden Chefredakteur der "Salzburger Nachrichten", zudem Präsident der Concordia. Er sagt: "Bevor ich jemanden in der Luft zerreiße, rede ich mit dem Menschen, den es betrifft. Das Recht sollte auch der Bundeskanzler haben." Dass Kurz ihn "vorauseilend angerufen hat", sei aber schon "ungewöhnlich".

"Ich bin nicht naiv", sagt Koller. "Natürlich ist es Kalkül des Bundeskanzlers, wenn er mich anruft. Er ruft mich ja nicht an aus Freundschaft oder weil er mich für so intelligent hält. Sondern weil ich ein Journalist bin und er mir was erzählen will. Und weil er vielleicht glaubt, dass er mich beeinflussen kann. Aber solange ich Herr meiner Entscheidungen bin, halte ich das nicht für wahnsinnig problematisch."

"Freundschaft auf dem falschen Dampfer"

Und natürlich bedeute das nicht "Das ist mein Freund", sagt Salomon an der Stelle. Koller: "Der jetzige Bundeskanzler ist mit vielen Menschen per Du, auch mit vielen Journalisten. Natürlich: Wenn man glaubt, dass das Freundschaft ist, ist man auf dem falschen Dampfer. Man muss trotzdem professionelle Distanz zu Politikern halten. Wenn jeder jeden kennt, heißt das noch nicht, dass jeder mit jedem verhabert sein muss."

Schlimmer als die Anrufe des Kanzlers fand Stefan Kaltenbrunner, Chefredakteur von Puls 24, Kurz' Kommunikationslinie nach dem Kleinwalsertal: "Man hätte das relativ schnell beenden können", sagt Kaltenbrunner – hätten Kurz und sein Team einen Fehler eingestanden, der passiert sei, man werde alles daransetzen, dass das nicht mehr vorkomme. Aber: "Kein Wort von Fehler", dafür Rechtfertigungen und "Herumeiern und Anrufe bei euch allen, das ist nicht sehr professionell". Kaltenbrunner erklärt sich das mit einem "Schockzustand", nachdem die Kommunikation dem Kanzleramt nach perfekten Wochen der Corona-Krise schlagartig entglitten war.

Wo wir bei Fehlern sind: Die "Kleine Zeitung" hat laut Patterer vorschnell und zu wenig geprüft ÖVP-Spin gegen SPÖ-Budgetsprecher Kai Jan Krainer online gestellt, als der öffentlichkeitswirksam auf den fehlenden Millionenhinweis des Finanzministeriums im Budgetentwurf aufmerksam machte. Patterer verwies im Concordia-Talk auf einen folgenden "Faktencheck" seines Mediums – zu Vorwürfen Krainers und der ÖVP.

"Wildeste Interventionen von Werbekunden"

Kaltenbrunner hat nach eigenen Angaben als (Gründungs-)Chefredakteur von Puls 24 seit Sommer 2019 bisher keinerlei politische Interventionen erlebt. Kurz rief auch nicht zu den Livebildern des Senders aus dem Kleinwalsertal an.

"Die wildesten Interventionen" kommen laut Kaltenbrunner "mittlerweile von Werbekunden". Er meinte damit frühere Tätigkeiten, erklärt Kaltenbrunner ergänzend.

Sehr ähnlich beschrieb das unmittelbar davor Kaltenbrunners Mitbewerberin um die "Kurier"-Chefredaktion anno 2018, Martina Salomon: "Die aggressivsten Interventionen kommen von Wirtschaftsinserenten", die nach einem aus deren Sicht unerfreulichen Artikel "in der Anzeigenabteilung anrufen und drohen, eine ganze Serie zu stornieren. Da geht es wirklich ans Eingemachte", berichtet die "Kurier"-Chefredakteurin.

Förderung von "affirmativem Journalismus"

Zu Inseraten fällt "SN"-Journalist Koller anderes ein: Er sieht "schon eine Intervention" der Politik bei öffentlichen Inseraten und zuletzt der auf Massenpresse fokussierten Corona-Medienförderung. Da werde "affirmativer Journalismus gefördert", sagt Koller.

Der Schweizer Kommunikationswissenschafter Vinzenz Wyss wirft da aus der Distanz ein: "Eure Presseförderung ist ja schon etwas schräg. Diskutiert ihr denn auch alternative Modelle der Journalismusförderung?"

"Missstand" Medienförderung

"Das ist ein großes Thema", sagt "Kurier"-Chefredakteurin Salomon, ein "Missstand, in dem sich jeder gemütlich eingerichtet hat". Sie konstatiert hier eine "massive Schräglage". Zu fördern sei Qualitätsjournalismus, in Österreich aber werde vor allem Boulevard gefördert. "Man will es sich mit keinem mächtigen Verlag verderben", ergänzt "SN"-Journalist Koller einen Befund über Regierungen unter Kanzlern aus der SPÖ wie der ÖVP.

Für "Kleine"-Chefredakteur Patterer ist die Medienförderung "Teil eines politischen Sittenbildes in diesem Land, das sich über viele Parteifarben spannt" und das er als "Deal 'Cash gegen Wohlverhalten'" umreißt. Er gibt die Hoffnung nicht auf, dass "nicht nur das gedruckte Papier gefördert wird" wie bei der Corona-Tageszeitungsförderung, sondern nach "qualitativen Kriterien wie Korrespondenten, Kollektivvertrag, Beteiligung am Presserat". (fid, 5.6.2020)