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Damit der Urlaub nicht zum Urlaubstrauma wird, empfiehlt sich zwischendurch eine kleine Zerstreuung, etwa ein Ausflug.

Reuters / Molly Darlington

Es sind nicht alle gleich vor den Viren und auch nicht vor den virenbedingten Restriktionen und Anschlägen auf die Autonomie der Person. Plötzlich wurde die Menschheit geschieden in die Kategorien "systemrelevant" oder "entbehrlich". Auch wenn die Corona-Regime durch konformes Staatshandeln eine Unzahl von Beschäftigungslosen und Kurzarbeitenden produziert haben, wird das sommerliche Bedürfnis nach Erholung bestehen bleiben. Da es niemanden gibt, dessen Leben und Alltag nicht von Grund auf umgekrempelt wurde, müssen die Freizeit- und Urlaubspraxen neu erfunden werden.

Inzwischen mag der Stillstand der Reise- und Urlaubsmaschinerien dem irdischen Klima eine Erholung gewähren. Das könnte ein Anlass sein, die eigene Biografie Revue passieren zu lassen und zu überlegen, ob man tatsächlich so viele Fernreisen, Städtekurztrips, Erlebniswelten, Großausstellungen und Megaevents, internationale Konferenzen und Messen braucht. Auch könnte sich mancher selbstkritisch fragen, ob nicht bei der rasenden Lebensgeschwindigkeit das eine oder andere übersehen oder gar versäumt wurde, ob nicht zuweilen die Muße der Hektik vorzuziehen ist, die Ruhe dem Lärm.

Krisen zerren das Beste und das Schlechteste, das in Menschen steckt, ans Tageslicht, sagt man, und das gilt offenbar auch für Institutionen. Corona hat Nationalismen, Regionalismen und Lokalchauvinismen zum Erblühen gebracht. EU-Mitgliedsstaaten setzten Maßnahmen, die einander diametral entgegengesetzt waren, und zeigten die Unfähigkeit der Union zu gemeinsamem Handeln. Innerhalb Deutschlands agierten Bundesländer so, als ob es keine Bundesrepublik gäbe.

Die verständliche Furcht vor Krankheiten wurde zwecks Bekämpfung von deren Erregern von politischen Seiten heftig geschürt – Kontrolle über die Menschen war eine wesentliche Strategie im Kampf gegen das Virus. Die organisierte Panikmache war effizient und hat von heute auf morgen für Leere in den Straßen, Verkehrsmitteln und Köpfen gesorgt. Nachdem die Leute begonnen hatten, in den eigenen vier Wänden zu arbeiten und im Homeoffice zu wohnen, hat die globalisierte Weltläufigkeit, die kurz davor noch schick gewesen war, einer biedermeierlichen Kleingeisterei Platz gemacht.

Das Schließen der äußeren Grenzen offenbart die inneren Grenzen, wenn Bezirke und Kommunen beginnen, sich abzuschotten. Es sind kurzsichtige Selbstsüchteleien, wenn an schönen Wochenenden die Parkplätze in den Seengebieten blockiert werden, um Ausflügler fernzuhalten, wenn eine Gemeinde die Wasserzufuhr für Feriensiedlungen sperrt, wenn Zweitwohnungsbesitzer aufgefordert werden, zu Hause zu bleiben. Etymologisch hat sich der "Gast" aus dem althochdeutschen "Fremdling" entwickelt, und dahin mutiert er nun zurück. In guten Zeiten freundlich empfangen, wird er plötzlich feindlich abgewehrt, verdächtig, statt Geld und Wohlstand die Pest in die Idylle zu bringen. Wird das dem Tourismus zuträglich sein?

Unübersichtliche Lage

Ebenso dramatisch, wenn auch anders strukturiert als in den westlichen Industrieländern zeigt sich Corona samt Begleiterscheinungen in Staaten mit geringerem Pro-Kopf-Einkommen. Ausgangssperren, mangelnde Verdienstmöglichkeiten und ungenügende medizinische Infrastruktur machen die Lage unübersichtlich. Revolten drohen, wenn bei Menschen der Magen ebenso leer ist wie die Geldbörse. Ein Land, das über den Gesundheitszustand seiner Bewohner nur spekulieren kann und seine Sicherheitslage nicht im Griff hat, braucht nicht auf den Tourismus zu hoffen. Unbekannte Infektionsraten verursachen ähnliche Unsicherheiten wie kriegerische Handlungen oder auch nur Demonstrationen, die durch die internationalen Medien geistern, und Kunden am Buchen hindern. Viren und Bakterien sind ebenso eine Bedrohung für Leib und Leben wie hochgehaltene Waffen. Jegliche Gefahr bringt die internationale Reisetätigkeit zum Erliegen, auch wenn sie nur imaginiert ist, auch wenn die Wege nicht durch behördlich verordnete Grenzschließungen abgeschnitten werden.

Die Geschichte des internationalen Tourismus hat gezeigt, dass Reiseströme immer dann versiegen, wenn in einem Zielgebiet unkalkulierbare Risiken nicht ausgeschlossen werden können. Pauschaltourismus mit Wunsch nach Abenteuern gibt es nicht, deren Nichteintreten muss ein Veranstalter garantieren können, und er haftet auch dafür. Das Gegenteil von Freiheit ist Gesundheit, sagt die Schriftstellerin Juli Zeh. Massentourismus braucht keine Freiheit, sondern Sicherheit. Wenn Länder für Ankommende eine vierzehntägige Quarantäne verordnen, ist Reisen nur noch für eine Minderheit attraktiv. Solche Zwänge nehmen allenfalls Individualisten, Weltenbummler und Abenteurer auf sich, Leute mit Zeit, Budget und Eigensinn. Ein Massentourismus, wie er in den zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts üblich wurde, könnte unter solchen Bedingungen nicht funktionieren. Es gäbe weder Kreuzfahrtschiffe mit Tausenden von Passagieren noch Skischaukeln, die die Landschaften und Ökosysteme ruinieren. Es gäbe auch nicht die überfüllten historischen Kerne in den europäischen Hauptstädten, in denen kein Weiterkommen ist, weil Fotografierende in spärlicher Bekleidung alle Wege verstellen und alle Stühle in den Gastronomiebetrieben besetzen.

Kann die längst von Klimatologen und Ökoaktivisten geforderte Entschleunigung der Mobilität einem unsichtbaren Virus gelingen? Und den Urlaubswilligen neue, wenn auch altbekannte Richtungen weisen? Im Corona-Rhythmus werden die Wege länger und beschwerlicher, und die Reisegeschwindigkeit sinkt. Doch die Ziele, bisher immer weiter in die Ferne verlagert, werden wieder in die Nähe rücken. Das Abhaken von Sehenswürdigkeiten, die mit Sternen bekrönt sind, kann, wer will, durch ein kontemplatives Verweilen an Orten ersetzen, die Charme aus ihrem unprätentiösen Charakter beziehen.

Einen neuen Zeitgeist begründen

Das Bedächtige, bis jetzt nur attraktiv für Außenseiter, Aussteiger und Alte, wäre wohl tauglich als Programm und Motto für einen neuen Reisestil, der gar so neu nicht ist. 1983 landete Sten Nadolny mit seinem Roman Die Entdeckung der Langsamkeit einen Longseller. Darin kann der Polarforscher John Franklin wegen seiner Langsamkeit der Geschwindigkeit seiner Zeitgenossen nicht standhalten. Aber mit Beharrlichkeit kommt er zu Erfolg und Ansehen. Das Langsame hat keinen guten Ruf, ihm haftet ein Odeur von Unfähigkeit an. Es wird gern gleichgesetzt mit dem Rückständigen, Ewiggestrigen, Begriffsstutzigen. Doch jetzt könnte es eine neue Mode beschreiben oder gar einen neuen Zeitgeist begründen, der nicht nur Individualisten und Systemverweigerern entspricht.

Mit der neuen Gemächlichkeit gewinnt ein alter Urlaubstyp wieder Aktualität. Balkon, Terrasse und Hausgarten – bisher als Zuflucht für Leute mit knapp bemessenem Budget betrachtet oder als Ferienersatz für Reiseunwillige und Spießer belächelt – werden eine neue Bedeutung erlangen. Bei näherer Betrachtung ist die Destination Dahamistan durchaus eine Alternative mit lohnenden Facetten. Man kann es sich sparen, Angebote auf Prospektwahrheit hin abzuklopfen, Überraschungen, weil das Produkt nicht hält, was die Werbung verspricht, sind ausgeschlossen. Wer auf Balkonien faulenzt, schlägt der Hauptsaison ein Schnippchen, leidet weder an Grenzstaus noch an überbuchten Hotels. Vor Ort ist alles wie gewünscht. Dresscodes, Besichtigungszwang und Kulturstress sind ersatzlos gestrichen. Unfreundlich ist nicht das Personal, sondern sind allenfalls die eigenen Urlaubsbegleiter, also Familie und Freunde.

Der Gesundheit ist so ein Heimurlaub ausgesprochen zuträglich. Nebenwirkungen durch Impfungen und Prophylaxen bleiben aus. Es gibt kein ungewohntes Essen, das nicht schmeckt, aber Magenbeschwerden verursacht, keine üppigen Buffets, die den Leibesumfang erweitern, keine morgendlichen Kopfschmerzen vom abendlichen All-inclusive-Wein. In Salat und Obst lauern keine unbekannten Viren und Bakterien auf der Suche nach einem neuen Wirt.

Es richtig krachen lassen in Dahamistan – und man muss noch nicht einmal früh aufstehen, um die Liegestühle zu reservieren. Aus den Lautsprechern dröhnt keine Musik, die niemand hören will, und es nerven keine penetranten Animateure mit Zwangsbespaßung. Wenn die Sonne sticht, entflieht man mit wenigen Schritten ins kühle Innere. Keine lästigen Haustiere wie Mücken, Fliegen, Ameisen sind zu bekämpfen. Wortwechsel mit aufdringlichen Souvenirhändlern, lästigen Straßenverkäufern und selbsternannten Guides entfallen, ebenso die Angst vor Kleinkriminalität. Das Abenteuer besteht im Wesentlichen darin, mit sich selbst und seinen Liebsten zurande zu kommen. Ansonsten sind die Urlauber auf Balkonien gegen Überraschungen gefeit.

Damit so ein Urlaub nicht zum Urlaubstrauma wird, empfiehlt sich zwischendurch eine kleine Zerstreuung, etwa ein Ausflug. Dazu muss man nicht einmal vor die Türe treten, bequem aus dem Sessel bucht man mit dem Schriftsteller Karl-Markus Gauß eine Reise durch das eigene Zimmer. Ein Blick durch die Wohnung lässt den Stubenhocker erkennen, dass ziemlich viel Welt von draußen ins Private eingedrungen ist. In den persönlichen Besitztümern manifestiert sich das Ferne und Vergangene. Den Raum auswendig lernen wie Sten Nadolnys Protagonist das Schiff, auf dem er angeheuert hat, entspannt den Geist und erholt die Seele, erhöht die Sorgfalt, schult das Gedächtnis. Die Forschungsreise durch das eigene Reich offenbart Vorlieben und Abneigungen, eröffnet ungeahnte Perspektiven, entpuppt sich als Expedition ins Innere, ins Selbst. Der Geheimtipp des bedächtigen Urlaubens ist aber: auf Schusters Rappen reisen. Nur wer zu Fuß geht, sieht die Kleinformate der Welt, das Unscheinbare. Anregungen liefert Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus. Vom Dezember 1801 bis zum August 1802 marschierte er von Leipzig über Wien, Ljubljana, Venedig, Rom und Neapel nach Siracusa auf Sizilien und über Mailand, Zürich und Paris wieder zurück. Auch diese Reise führte nicht nur zu Erkenntnissen über die ergangenen Orte, sondern auch zu Einsichten in die eigene Person. Da zu Hause bleiben oder zu Fuß gehen nicht jedermanns Sache ist, werden Menschen weiter durch die Welt rasen, wenn sie nicht durch äußere Umstände davon abgehalten werden. Gewiss wird Urlaub im Inland nun mit Nachdruck beworben, die Sommerfrische eine Renaissance erfahren, wenn auch nur vorübergehend. Mit den durch Corona gewonnenen Einsichten über die Fragilität einer globalisierten Welt kommt vielleicht der eine oder die andere zu neuen Erkenntnissen. (Ingrid Thurner, 6.6.2020)