13 Jahre nach dem Verschwinden der dreijährigen Madeleine McCann aus einer Ferienwohnung im Süden Portugals richtet sich der Verdacht gegen einen 43-Jährigen aus Deutschland.

Foto: EPA/METROPOLITAN POLICE HANDOUT

Braunschweig –Eine britische Zeugin hat nach einem Bericht der "Sun" im Mordfall "Maddie" den 43-jährigen verdächtigen Deutschen wiedererkannt. Er soll sich damals in der Nähe des Appartements der Familie McCann merkwürdig verhalten haben. Die Zeitung beschreibt die Frau als "glaubwürdige Zeugin", die den Mann schon wenige Stunden nach dem Verschwinden des Mädchens in der Anlage in Portugal beschrieben hat.

Als ihr nun ein Bild von dem Verdächtigen gezeigt wurde, sagte sie der "Sun" zufolge: "Das ist der Mann, den ich gesehen habe." Scotland Yard wollte den Bericht auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur am Samstag nicht kommentieren.

U-Haft wegen Vergewaltigung

Im Fall der verschwundenen dreijährigen Madeleine "Maddie" McCann aus Großbritannien werden immer mehr Details über den inzwischen mordverdächtigen Deutschen bekannt. Der 43-Jährige sitzt derzeit in Kiel eine alte Haftstrafe ab, die das Amtsgericht Niebüll bereits 2011 gegen ihn verhängt hat. Dabei ging es um Handel mit Betäubungsmitteln.

Parallel ist wegen Vergewaltigungsvorwürfen gegen ihn Untersuchungshaft angeordnet. Denn zuletzt verurteilte ihn das Landgericht Braunschweig am 16. Dezember 2019 wegen schwerer Vergewaltigung unter Einbeziehung früherer Strafen zu sieben Jahren Haft. Er hatte 2005, rund eineinhalb Jahre vor Maddies Verschwinden, im portugiesischen Praia da Luz eine damals 72-jährige Amerikanerin vergewaltigt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, die Revision liegt beim deutschen Bundesgerichtshof. Ebenfalls in Praia da Luz verschwand am 3. Mai 2007 Maddie aus einer Appartementanlage.

Am Mittwochabend gaben das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) und die Staatsanwaltschaft Braunschweig überraschend bekannt, dass der Deutsche im Fall Maddie unter Mordverdacht steht. "Wir gehen davon aus, dass das Mädchen tot ist", bekräftigte der Sprecher der Braunschweiger Staatsanwaltschaft, Hans Christian Wolters. Der STANDARD berichtete. Die Ermittler brauchen weitere Hinweise, sie appellieren an Zeugen, sich zu melden. "Für einen Haftbefehl oder eine Anklage reicht es noch nicht aus", so der Sprecher.

Die Verteidiger des 43-jährigen Mordverdächtigen haben eine Stellungnahme bisher abgelehnt. Wann mit einer solchen zu rechnen sei, könne er zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen, teilte einer der beiden Verteidiger, Jan-Christian Hochmann, auf Nachfrage mit.

Mögliche Verbindungen zu zwei weiteren Fällen

Die Staatsanwaltschaft Stendal sucht unterdessen nach möglichen Verbindungen zwischen dem Fall Maddie und jenem der vor fünf Jahren in Sachsen-Anhalt verschwundenen Inga. Im Zusammenhang mit dem neuen Tatverdacht im Fall Maddie werde geprüft, ob es Anhaltspunkte für Parallelen gebe und ob sich daraus ein Anfangsverdacht gegen den 43-Jährigen ergebe. Weitere Details teilte die Staatsanwaltschaft am Freitag nicht mit.

Inga aus Schönebeck in Sachsen-Anhalt war fünf Jahre alt, als sie am 2. Mai 2015 aus einem Wald bei Stendal scheinbar spurlos verschwand. Dorthin hatte sie mit ihrer Familie einen Ausflug gemacht. Umfangreiche Suchaktionen und Ermittlungen konnten nicht klären, was mit ihr geschehen war.

Wie der "Kölner Stadt-Anzeiger" (Samstagsausgabe) berichtet, geht die Polizei zudem Hinweisen nach, wonach der heute 43-jährige Tatverdächtige auch für eine Entführung in Portugal verantwortlich sein könnte. Der damals sechsjährige Rene aus Elsdorf bei Bergheim war dem Bericht zufolge im Jahr 1996 an einem Strand an der portugiesischen Algarve verschwunden, als seine Mutter und ihr Lebensgefährte ihn kurz aus den Augen gelassen hatten.

Verdächtiger 2018 zeitweise aus Haft entlassen

Der Verdächtige ist einem Pressebericht zufolge vor knapp zwei Jahren in Schleswig-Holstein zeitweise aus der Haft entlassen worden. Er habe sich anschließend frei in Europa bewegen können und sei nach Italien gereist, berichtete die "Süddeutsche Zeitung" am Freitag.

Zur Freilassung kam es demnach vor allem, weil die Staatsanwaltschaft Flensburg zu spät gehandelt habe. Der Mann verbüßte dem Bericht zufolge im August 2018 eine Haftstrafe wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes, die Ende des Monats auslaufen sollte. Die Anklagebehörde wollte laut diesen Angaben mithilfe einer noch offenen Strafe wegen Drogenhandels verhindern, dass er auf freien Fuß kommt. Um die ursprünglich zur Bewährung ausgesetzte alte Strafe von einem Jahr und neun Monaten zu vollstrecken, habe die Staatsanwaltschaft Flensburg aber erst die Justiz in Portugal um ihr Einverständnis bitten müssen. Von dort war der Verdächtige im Juli 2017 ausgeliefert worden.

Bei dem Antrag auf Auslieferung hatte die deutsche Justiz laut "SZ" das alte Urteil wegen Drogenhandels nicht erwähnt. Ohne Einverständnis Portugals durfte die deutsche Justiz demnach nun nicht darüber hinausgehen. Den neuen Antrag habe die Staatsanwaltschaft dann sehr spät gestellt. Der Mann sei deshalb Ende August aus der Haft entlassen worden. Erst am 27. September 2018 sei er wieder festgenommen worden, seither sitzt er in Kiel in Haft.

Langes Vorstrafenregister

Nach Angaben der Ermittler lebte der Beschuldigte zwischen 1995 und 2007 regelmäßig an der Algarve, darunter einige Jahre in einem Haus zwischen Lagos und Praia da Luz. Immer wieder pendelte er zwischen Deutschland und Portugal, wurde in beiden Ländern mehrmals straffällig. Im September 2017 wurde er wegen Besitzes von Kinderpornografie und sexuellen Missbrauchs eines Kindes vom Landgericht Braunschweig verurteilt. Der Mann habe eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten erhalten, die er bereits verbüßt habe, bestätigte Thomas Klinge, Sprecher der für Kinder- und Jugendpornografie zuständigen Staatsanwaltschaft Hannover.

Laut "Spiegel" weist das Strafregister des Mannes 17 Einträge auf. Schon vor rund 27 Jahren, im Oktober 1993, verhängte das Amtsgerichts Würzburg eine zweijährige Jugendstrafe gegen den damals noch Minderjährigen wegen "sexuellen Missbrauchs eines Kindes, versuchten sexuellen Missbrauchs eines Kindes sowie Vornahme sexueller Handlungen vor einem Kind", wie aus Gerichtsunterlagen hervorgeht.

Ein Überblick zum Ermittlungsstand

Was wir wissen:

- Der Verdächtige ist nach Angaben der Ermittler 43 Jahre alt, Deutscher und mehrfach vorbestraft, auch wegen Kindesmissbrauchs.

- Derzeit sitzt der Mann in Kiel eine alte Freiheitsstrafe ab. 2011 wurde er wegen Drogenhandels zu einem Jahr und neun Monaten Haft verurteilt. Parallel ist gegen ihn wegen Vergewaltigungsvorwürfen Untersuchungshaft angeordnet.

- Der Verdächtige lebte zwischen 1995 und 2007 regelmäßig an der Algarve in Portugal und für einige Jahre in einem Haus zwischen Lagos und Praia da Luz. Vor seinem Auslandsaufenthalt hatte er in der Region Braunschweig gewohnt.

- In Portugal ging der Mann Gelegenheitsjobs unter anderem in der Gastronomie nach. Er soll seinen Lebensunterhalt zudem durch Einbruchsdiebstähle in Hotels und Ferienwohnungen sowie Drogenhandel finanziert haben.

- Der 43-Jährige wurde laut Gerichtsunterlagen mehrfach zu Jugend-, Geld-, Bewährungs- und Freiheitsstrafen verurteilt.

- Im Oktober 1994 verhängte das Amtsgericht Würzburg eine zweijährige Jugendstrafe gegen ihn, unter anderem wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes. Das Amtsgericht Braunschweig verurteilte ihn im Februar 2016 zu einem Jahr und drei Monaten Haft – auch dabei ging es um den sexuellen Missbrauch eines Kindes sowie um den Besitz kinderpornografischer Schriften.

- Gegen den Mann ergingen den Akten zufolge auch europäische Haftbefehle wegen offener Haftstrafen. Zuletzt wurde er im September 2018 in Italien festgenommen.

- Im Dezember 2019 verurteilte das Landgericht Braunschweig den Mann wegen schwerer Vergewaltigung unter Einbeziehung früherer Strafen zu sieben Jahren Haft. Er soll 2005 in Praia da Luz eine 72 Jahre alte US-Amerikanerin in deren Haus überfallen und vergewaltigt haben. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

- Am 3. Mai 2007 soll der Verdächtige zu "tatrelevanter" Zeit in Praia da Luz mit dem Handy telefoniert haben.

- Der Verdächtige soll in Portugal zwei auffällige Autos benützt haben, einen VW-Bus und einen Jaguar.

Was wir nicht wissen:

- Es ist weiterhin unklar, warum genau der 43-Jährige unter Mordverdacht steht. Die Ermittler haben sich noch nicht zu den möglichen Indizien gegen den Mann geäußert.

- Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hält Madeleine für tot. Das Kind oder eine Leiche sind aber bis heute nicht gefunden worden.

- Unklar ist, wie die Tat verübt worden sein soll. Das sei Gegenstand der aktuellen Ermittlungen, sagte ein Beamter des deutschen Bundeskriminalamts am Mittwoch in der Sendung "Aktenzeichen XY... ungelöst".

- Das Motiv ist ebenfalls unklar. Möglich sei eine sexuelle Motivation oder dass nach einem zunächst geplanten Einbruch spontan auf ein Sexualdelikt umgeschwenkt wurde.

- Zu den offenen Fragen gehört, ob es weitere Taten gibt. Die Staatsanwaltschaft Stendal sucht nach möglichen Verbindungen zum Fall der 2015 in Sachsen-Anhalt verschwundenen fünfjährigen Inga. Geprüft wird demnach, ob es Anhaltspunkte für Zusammenhänge gibt und ob sich daraus ein Anfangsverdacht gegen den 43-Jährigen ergibt.

- Die deutschen Ermittler halten es für möglich, dass der Verdächtige weitere Taten verübt hat, die ihm bisher nicht zugeordnet werden. Das deckt sich mit einer Hypothese der britischen Polizei aus dem Jahr 2014, wonach es sich bei dem Täter im Fall Maddie um einen Unbekannten handeln könnte, der zwischen 2004 und 2010 in Ferienanlagen an der Algarve einbrach und dabei mehrere Mädchen sexuell missbrauchte.

(APA, red, 5.6.2020)