Wurden Bürgerinnen und Bürger seit Mitte März ihrer Freiheit beraubt, weil sie ihr Haus nur eingeschränkt verlassen durften, Gesichtsschutz tragen mussten oder im Pflegeheim eingesperrt waren? Natürlich, sagen die einen. Nein, widersprechen andere, denn diese Corona-Maßnahmen dienten der Abwehr einer gefährlichen Pandemie und damit der Bewahrung einer größeren Freiheit.

Diese Frage, die in sozialen Medien und am Familientisch seit Monaten heftig diskutiert wird, berührt ein Thema, mit dem sich seit Beginn der Aufklärung Philosophen intensiv beschäftigen. Schon Gottfried Wilhelm Leibniz unterschied im 17. Jahrhundert die negative und die positive Freiheit. Das eine ist die Freiheit von Zwang, das andere die Möglichkeit, eine solche Freiheit tatsächlich nutzen zu können. Die Freiheit von Knechtschaft und die Freiheit von Krankheit und bitterer Not: Das gleiche Wort kann eine ganz andere Bedeutung erhalten. Positive Freiheiten bedeuten auch Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und eine Mitsprache in der Gesellschaft.

Ein altes Problem

Das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Konzepten beschäftigte auch Immanuel Kant, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Martin Heidegger, Erich Fromm in seinem Buch Die Furcht vor der Freiheit sowie Isaiah Berlin in seiner Antrittsvorlesung in Oxford 1958 über "Two Concepts of Liberty". Doch keiner von ihnen konnte je eine endgültige Antwort auf die Frage geben, welche Art der Freiheit die wertvollere ist. Das hängt von den jeweiligen Normen und Werten einer Gesellschaft und des Einzelnen ab, und die werden von unterschiedlichen historischen Erfahrungen, wirtschaftlichen Interessen, politischen Einstellungen und sogar Geschlechterunterschieden genährt. All das erklärt, warum Diskussionen über Freiheit so emotional ablaufen.

Der deutsche Philosoph Philipp Hübl, der derzeit an einem Buch über Freiheit schreibt, verweist auf das Dilemma, das schon seit der Französischen Revolution mit ihrem Schlachtruf "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" im öffentlichen Bewusstsein fest verankert ist. "Es gibt zwei Prinzipien, die fast alle Menschen für richtig halten: Der Mensch soll eine gewisse Freiheit haben, und wir wollen in einer fairen Gesellschaft leben. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind progressive Prinzipien, die allerdings oft nicht in Einklang zu bringen sind." Und auch Kants Satz "Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt" hilft nicht weiter, wenn man sich über die Natur der Freiheit nicht einig ist.

Philosoph Philipp Hübl: "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind oft nicht in Einklang zu bringen."
Foto: Richard Tanzer

Das zeigt sich auch in aktuellen Corona-Debatten. Experten sind sich einig, dass technische Hilfsmittel wie die "Stopp Corona"-App des Roten Kreuzes viel zur Eindämmung des Virus beitragen können – aber nur, wenn möglichst viele Menschen sie nutzen. Allerdings hat allein die Debatte über eine App-Verpflichtung dazu geführt, dass sich die große Mehrheit gegen ein an sich sinnvolles Instrument wehrt, während sie viel schmerzhaftere Beschränkungen bereitwillig akzeptiert. Der Verlust an persönlicher Autonomie zählt mehr als der Gewinn an Gesundheit und Freizügigkeit im Alltag. Hier geht ihnen der Verlust an Autonomie zu weit. Das gleiche Problem tritt beim Thema Impfpflicht auf: Obwohl man damit unzählige Menschenleben retten könnte, wird sie selbst von vielen Impfbefürwortern abgelehnt. Eine Freiwilligkeit, die aus gesellschaftlicher Sicht wenig bringt, wird plötzlich als Grundrecht empfunden.

Weniger Staat

Politisch gesehen spielt der negative Freiheitsgedanke eine größere Rolle im bürgerlich-konservativen Lager, vor allem wenn es um wirtschaftliche Freiheit geht. Der Staat soll möglichst wenig in die Wirtschaft eingreifen und dem einzelnen Unternehmer erlauben, auf dem freien Markt sein Glück zu suchen. Vertragsfreiheit und Gewerbefreiheit sind Grundsteine einer liberalen Marktwirtschaft und galten im Laisser-faire-Kapitalismus als sakrosankt.

Männer neigen eher zu diesem Freiheitsbegriff, sagt Hübl mit Verweis auf Untersuchungen aus den USA und nennt als Beispiel das Verhalten Berliner Fußgänger in der Corona-Zeit. "Die Frauen sind meist ausgewichen, die Männer weniger", sagt er. "Vor allem gebildete, wohlhabende Männer haben die Maßnahmen als Einschränkung ihrer Freiheit empfunden." Typisch dafür sei der Spruch des Starregisseurs Frank Castorf gewesen: "Ich möchte mir von Frau Merkel nicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss." Das entspricht auch der Rhetorik männerlastiger Parteien wie der FPÖ oder AfD.

Ein internationaler Vergleich zeigt, dass viele Länder, die von rechtspopulistischen Männern mit Machismo-Tendenzen regiert werden – so etwa die USA, Brasilien Russland oder Großbritannien –, besonders stark von der Corona-Pandemie betroffen sind, Länder mit progressiven Frauen an der Spitze viel weniger.

Denn der linksprogressive Freiheitsbegriff macht nicht an der Außenhaut des Einzelnen halt. Er ist eng mit der Idee der Solidarität mit allen in der Gesellschaft verbunden, die meist Hand in Hand mit Einschränkungen der persönlichen Freiheiten geht. Und der wird laut Hübl heute tendenziell stärker von Frauen und Jüngeren vertreten. "Für sie muss der Staat eingreifen, um auch die Freiheit der Schwachen und Unterdrückten zu sichern", sagt er. "In der öffentlichen Debatte heißt es oft, die Linken und die Grünen wollen alles verbieten. Aber verboten wird meist nur das, was einen Schaden verursacht und die Freiheit von anderen einschränkt. Und das ist, wenn man das Gemeinwohl im Sinn hat, legitim."

Gemeinwohl in moderner Gesellschaft

In einer modernen Gesellschaft wird das Gemeinwohl zunehmend breit ausgelegt. Früher war Rauchen Privatsache, heute dominieren die Gefahren des Passivrauchens. In der Wirtschaft steht der Konsumentenschutz einer ungezügelten Vertragsfreiheit entgegen. Theoretisch könnte man von jedem Verbraucher verlangen, dass er sich selbst über Qualität und Sicherheit eines Produktes informiert. Aber weil diese Informationen für die meisten nicht zugänglich sind, sind Gesetze und Gerichte Voraussetzung für einen fairen Markt.

Den gleichen Zweck verfolgen Einschränkungen in der Gewerbefreiheit. Bloß geht hier der Trend in Richtung schrittweiser Liberalisierung: Für immer mehr Berufe braucht es keine Befähigungsnachweise mehr. Für Wirtschaftsliberale ist dieser Prozess zu langsam, für andere zu schnell.

Das Ladenöffnungsverbot am Sonntag nimmt Menschen die Freiheit einzukaufen, aber es schafft Freiräume fürs Familienleben.
Foto: Imago

In Österreich greift der Staat auch über das Verbot der Sonntagsöffnung in die Gewerbefreiheit ein. Abgesehen von religiösen Gründen geht es hier auch ums Gemeinwohl: Nur wenn die meisten Menschen am gleichen Tag freihaben, sind gemeinsame Aktivitäten mit Familie und Freunden möglich. Bloß einkaufen kann man nicht, obwohl viele Händler gerne offen halten würden. Auch hier stoßen zwei entgegengesetzte Freiheitsbegriffe aufeinander.

Chaos statt Freiheit

Einschränkungen der Freiheit zugunsten von Freiheit lassen sich auch durch die Modelle der Spieltheorie begründen, vor allem durch das Gefangenendilemma. Dieses berühmte Gedankenexperiment zeigt auf, wie Einzelne, die nur kurzfristige Eigeninteressen verfolgen, damit der Gemeinschaft schaden und durch auch sich selbst. Sie werden dann zu Trittbrettfahrern, die die Umwelt verpesten, Steuern hinterziehen oder in einer Pandemie auf Abstandhalten pfeifen, weil sie nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Wenn jeder das tut, was er will, führt das nicht in die Freiheit, sondern ins Chaos. Und selbst wenn anfangs nur wenige so handeln, greift ein solches Verhalten rasch um sich; denn niemand will der Dumme sein, der sich als Einziger an die Regeln hält. Unsolidarisches Verhalten ist so ansteckend wie ein Coronavirus.

Hier können Verbote nicht nur dem Gemeinwohl dienen, sondern auch besser persönliche Freiräume schaffen als reine Eigenverantwortung, betont Hübl. Er verweist etwa auf die Mülltrennung, die bei reiner Freiwilligkeit meist nicht funktioniert. "Auch ein Plastikverbot im Supermarkt schränkt zwar einige ein, gibt anderen aber mehr Freiheit", sagt er. Das wäre auch ein Argument für eine zukünftige Impfpflicht gegen Covid-19: Wird ein Verhalten, das die Gemeinschaft als höchst sinnvoll erkannt hat, vorgeschrieben, dann muss der Einzelne nicht mehr darüber nachdenken, wie er sich nun verhalten soll.

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Menschen wünschen ein Leben ohne Zwänge. Aber wenn jeder das tut, was er will, führt das nicht zu Freiheit, sondern ins Chaos.
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Aber in einer liberalen Gesellschaft muss es Grenzen für das Primat des Kollektivs geben. Gerade das 20. Jahrhundert hat gezeigt, wie gefährlich es ist, wenn im Namen des Volkes, der Rasse oder der Klasse individuelle Freiheiten geopfert werden. Und heute dient auch ein postideologisches China als abschreckendes Beispiel dafür, wie im Namen des kollektiven Interesses Grundrechte und Menschenwürde verletzt werden.

Millennial Socialists

Zwar sei die Solidarität, die die progressive Jugend heute fordert, nicht mehr wie einst tribalistisch oder nationalistisch motiviert, sondern universalistisch, betont Hübl. Sie umfasse neben der gesamten Menschheit immer öfter auch Tiere und Umwelt. Das sei ein Fortschritt. Allerdings sieht er in der zunehmenden Ablehnung des freien Marktes eine Gefahr. "Die heutigen Millennial Socialists glauben, dass es nur einen Raubtierkapitalismus gibt, unter dem die Schwachen leiden. Für sie ist der Kapitalismus an allem schuld. Ihr Unwohlsein mit der Weltordnung beruht selten auf einem ökonomischen Verständnis." Doch ohne den materiellen Wohlstand, den eine geregelte Marktwirtschaft zuerst im Norden und in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend auch im Süden geschafft hat, sei eine gerechte Gesellschaft kaum zu verwirklichen.

Auch wenn seit Ausbruch der Pandemie der Staat mit seinen kollektiven Entscheidungsprozessen das Sagen hatte und diesen Vorrang nur langsam aufgibt, so bleibt der Markt mit seinen Freiräumen und Freiheiten von staatlichen Zwängen eine tragende Säule unserer Gesellschaft. Und bei allen Corona-Maßnahmen gab es stets ein grundlegendes Verständnis, dass diese Eingriffe nur temporär sind und die individuellen Freiheiten, die in der Verfassung und der europäischen Menschenrechtscharta festgeschrieben sind, nicht berühren werden.

Bei aller Bedeutung sozialer und ökonomischer Rechte bleiben die Freiheit von Zwängen und die Autonomie des Einzelnen das wichtigste Prinzip einer liberalen Demokratie. (Eric Frey, 14.6.2020)