Henry tanzt, und das ist ansteckend. Der junge Mann im Real-Madrid-Leiberl steht unter der Marienbrücke, die vom zweiten Bezirk direkt ins Bermudadreieck führt, und schüttelt sich zu Reggaeton-Beats aus der Box am Boden. Er wackelt mit den Knien und wirft seine Hände in die Luft, während seine Freunde in den Liegestühlen daneben grinsend zu ihren Bierdosen greifen.

Was macht der junge Mann, der ursprünglich aus der Dominikanischen Republik stammt, da? Was gibt es zu feiern? "I’m just dancing, man!", ich tanze einfach. Henry feiert an diesem Samstagabend das Leben, und da ist er am Donaukanal wohl aktuell an der richtigen Adresse.

Der Raum am Donaukanal ist durch Corona noch enger geworden.
Foto: Nikolaus Ostermann

Der Donaukanal ist Wiens innerstädtischer Betonstrand mit Saisonbetrieb von April bis Oktober. Er ist 17,3 Kilometer lang, das für das Stadtleben interessante Geschehen konzentriert sich aber auf zwei Kilometer: zwischen Franzens- und Augartenbrücke, zwischen dem Kult-Club Flex und dem Platz, wo die Hafenkneipe steht. Der Donaukanal ist das Wasserloch in der urbanen Wüste, an dem Studenten, Jogger und Bierverkäufer zusammenkommen. Sein Name ist übrigens eine kleinere Lüge, weil er eigentlich kein Kanal, sondern ein regulierter Donauarm ist. Aber weil Wien Wien ist, interessiert diese Ungenauigkeit seit knapp 400 Jahren niemanden so wirklich.

Ein schwieriger Tanz

In der neuen Normalität des Frühlings, die sich wie Post-Corona anfühlt, ohne Post-Corona zu sein, ist der Donaukanal ein Symbol. Für das wieder aufblühende Leben, für die Freiheit, die sich die Menschen zurückholen. Aber auch für den schwierigen Tanz, der uns nach dem "Hammer" des Lockdowns noch länger begleiten wird. In den sozialen Medien wanderten Fotos von Menschengruppen am Ufer herum, meistens mit entsetzten Kommentaren über mangelnde Eigenverantwortung der Menschen im Allgemeinen und der Wiener im Besonderen. Masken tragen am Kanal nur die Gastromitarbeiter, der Wille zum Abstand sinkt mit jedem Getränk. Nach dem Stand der Forschung ist die Infektionsgefahr an der frischen Luft sehr viel geringer, und angesichts von Bildern wie am Donaukanal kann man nur hoffen, dass das auch stimmt.

Henry tanzt am Kanal. Zu feiern gibt es nichts: "I’m just dancing!"
Foto: Nikolaus Ostermann

Ein später Samstagabend im Mai. Am Kanal ist die Stimmung trotz des suboptimalen Wetters stabil. Es ist ungewöhnlich kalt für diese Jahreszeit, doch davon lassen sich die Menschen den Kanal nicht nehmen. Sie sitzen in Übergangsjacken – der objektiv besten Form der Jacke – herum und schütten sich mitgebrachten Wein in mitgebrachte Plastikbecher. Ein paar Meter weiter, in den Gastronomiebetrieben, sitzen die Amateurfußballer bei Cocktails mit ihren Freundinnen oder jungen Frauen, die es einmal werden sollen.

Es liegt ein süßlicher Geruch in der Luft, nicht nur wegen der Sportzigaretten, sondern auch wegen der Liebe. Zum einen wegen der romantischen Liebe: Am Wasser sitzen die Paare auf ihrem ersten, zweiten, hundertsten Date; Hände wandern auf Knie, zwischen den Grüppchen aus Frauen und Männern werden vorsichtige Blicke ausgetauscht. Aber auch wegen der Liebe zum Leben, das jetzt eben pausieren musste.

Wie bei Alexandra und Eleni zum Beispiel. Die Freundinnen, beide 20 Jahre alt und Studentinnen an der TU, sitzen herum, drehen Zigaretten und quatschen. Früher hätte man sie an einem Samstagabend in der Grellen Forelle getroffen, im Werk oder auf irgendeiner Homeparty. Jetzt trifft man sie vermehrt im Burggarten, im Alten AKH oder eben am Kanal. Ein bisschen ein anderes Leben, aber immerhin wieder ein Leben. "Manchmal braucht man das einfach: rausgehen, mit Menschen reden, die man noch nicht kennt", sagt Alexandra.

Vor dem Lockdown hätte man die TU-Studentinnen Alex und Eleni (r.) abends in der Grellen Forelle oder im Werk getroffen – jetzt sind die Clubs geschlossen, zum Ausgehen bleibt vor allem der öffentliche Raum.
Foto: Nikolaus Ostermann

Neue Freiheit

Der Mensch braucht das tatsächlich, denn er ist ein soziales Wesen. Die Corona-Krise hat viele Menschenleben gekostet, aber sie hat auch vielen Menschen Leben gekostet. Die Freiheit, die Leichtigkeit, der Kontrollverlust, das ist alles verloren gegangen, zumindest temporär. Ist es zynisch, angesichts des Leids über den Verlust an Lebensqualität zu jammern? Einerseits ja. Es ist kein zu großes Opfer, ein Jahr auf Partys zu verzichten und sich zurückzunehmen. Aber das sagt sich wahrscheinlich auch ein bisschen leichter, wenn man nicht Anfang 20 ist. In dem Alter hat man quasi ein verbrieftes Recht auf Kontrollverlust.

Und wo soll das gehen? Die Clubs sind zu und werden es vermutlich noch eine Zeitlang bleiben. Die Bars haben wieder offen, aber mit früher Sperrstunde und Sitzplatzzwang ist einiges von ihrem Zauber verschwunden. Eine Bar ist schließlich nur eine Bar, wenn man um drei Uhr am Tresen mit jemandem fraternisieren kann, den man unter normalen Umständen nicht wirklich mögen würde. Wie fast immer, wenn man den Menschen etwas nimmt, finden sie neue Wege und Umgehungskonstruktionen. Und so taten die Wiener seit Wochen das, was schon Christopher Kolumbus tat: Sie entdecken Orte neu, die schon seit Ewigkeiten entdeckt sind.

Sie sitzen "zwischen den Museen" oder auf der Terrasse über der U4 bei der Pilgramgasse. Auf Whatsapp erhält man freitagabends Videos von spontan eröffneten Tanzflächen im Volksgarten (dem Garten, nicht dem Club). Und der Donaukanal ist noch mehr der Hotspot, der er immer schon war. Denn natürlich ist der Platz am Wasser, wo der Asphalt die Sommerhitze dreist lange speichert und wo es trotzdem immer ein bisschen kühler ist als woanders in der Stadt, seit langem begehrt. Seit jeher sitzen Menschen in zu kurzem Sommergewand auf ihren schwitzenden Hintern, trinken Dosenbier und lassen ihre Füße über dem braunen Wasser baumeln.

Blumen und Bienen

Aber jetzt fühlt sich das alles noch ein bisschen anders an. Jetzt muss das Leben seinen Platz am Kanal finden, weil es die anderen Plätze gerade nicht mehr gibt. Die jungen Menschen hier am Kanal diskutieren, flirten, konsumieren. Sie üben Tänze, spielen Karten oder Schach. An einem guten, sommerwarmen Abend ist das hier wie eine große WG-Party: Es ist laut, man kennt kaum jemanden, alles zerfällt in Grüppchen. Aber man hat trotzdem das Gefühl, auf derselben Party zu sein.

Die Menschen konsumieren, flirten und spielen Karten.
Foto: Nikolaus Ostermann

Am Pfingstmontag schaut die Sache schon ein wenig anders aus als in den Tagen zuvor. Das Thermometer klettert auf über 25 Grad, und der Kanal ist schon tagsüber gesteckt voll. Die Kleidung ist angesichts des Wetters kürzer geworden, und die Blicke zwischen Männlein und Weiblein sind entsprechend intensiver. Über allem liegt auch heute der Sound des Kanals: Die "Bier, Bier, kaltes Bier!"-Schreie der Männer mit den Fahrradtaschen, das Gebrumme der Autos auf der Donaustraße, die scheppernden Songs aus den Bluetooth-Boxen. Letzteres ist eine Mischung aus Drum’n’Bass, Bella Ciao und Wonderwall, die sich vermutlich seit 1995 kaum verändert hat.

Die höheren Temperaturen lassen auch die Unterhaltungen hitziger werden. Es geht um die Blumen und die Bienen und die oftmals komplizierte Zeit vor der Bestäubung. Man hört Gesprächsfetzen wie "Ah, ist das der aus Berlin?" oder auch mal ein fassungsloses "Warum lädt er mich nicht einfach auf ein Eis ein?" Ja, warum eigentlich nicht? Jeder Mann, der aktuell zögert, eine Frau einzuladen (und vice versa), sollte das hier vielleicht zum Anlass nehmen, das zu tun. Das Leben ist kurz, und wer weiß schon, wann der nächste Lockdown kommt?

Der Donaukanal ist ein Symbol für die komplizierte Gratwanderung in der neuen Normalität. Für die Wasserstraße ist das aber nur bedingt eine neue Erfahrung. Hier konzentrierten sich schon immer die Wiener Debatten über Freiheit, öffentlichen Raum und den Interessenausgleich zwischen den Menschen in oder an ihm. Vor knapp zehn Jahren, als Ursula Stenzel noch ÖVP-Bezirksvorsteherin der Inneren Stadt war, tobte der Kampf um die Flex-Sperrstunde. Vor fünf Jahren poppten am Kanal plötzlich kleinere Raves auf, die als politische Kundgebungen angemeldet wurden. Seit Jahren schwelt eine Diskussion darüber, wie viele "konsumfreie" Flächen – also jene, die nicht zu einem Gastronomiebetrieb gehören – der Kanal braucht. Und auch aktuell gibt es Debatten um Gastronomieprojekte, die im Zuge der Flächen-Neuausschreibung 2017 vergeben wurden.

Es gibt viel nachzuholen nach dem Lockdown.
Foto: Nikolaus Ostermann

Ein Donnerstag Anfang Juni. Am späten Nachmittag ist ein Gewitter über Wien gezogen, auf dem Asphalt schimmern danach große Pfützen in der Abendsonne. Die Menschen am Donaukanal stört das nicht. Es gibt kein schlechtes Wetter, nur empfindliche Gesäße. Auch den Grafikerinnen Astrid, 24, und Julia, 28, macht das nichts aus. Sie sitzen fröhlich am Boden zwischen Fahrradhelmen und leeren Eisbechern.

"Ja, es war schon einiges nachzuholen", erinnert sich Julia an den Moment, als die Ausgangsbeschränkungen, die bekanntlich nie so strikt waren wie kommuniziert, aufgehoben wurden. Den Lockdown hat sie empfunden wie viele: anfangs ein wenig aufregend, später monoton und irgendwann belastend. Seitdem macht sie es wie die meisten anderen Wiener: Das soziale Leben spielt sich im Freien ab, zwischen Schanigarten und öffentlichen Orten wie dem Kanal. "Lust auf dichtes Gedränge hab ich momentan ohnehin nicht", sagt Julia.

Die Sonne geht unter über dem Kanal, die Bierverkäufer ziehen klingelnd ihre Bahnen. Aus den Bluetooth-Boxen dröhnt Techno, die beiden Boxenbesitzer zünden sich eine Zigarette an und schauen einer Gruppe von Frauen hinterher. Ein ganz normaler Donnerstagabend am Kanal, fast könnte man vergessen, dass die Zeiten alles andere als normal sind. (Jonas Vogt, 7.6.2020)