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Eigentlich ist der Pangong Tso ein beliebtes Touristenziel. Jetzt stehen sich dort etliche Soldaten gegenüber.

Foto: AP/Manish Swarup

Hoch im Himalaya, mitten im Nirgendwo, an der Grenze zwischen Indien und China, gehen seit Tagen auf Google Maps die Wogen hoch. Auf welchen Ort man in der Gegend um Galwan in Ladakh auch klickt, man findet in den Rezensionen Kommentare wie "This is an INDIAN, INDIAN, INDIAN, INDIAN territory. For god sake, China must stop encroaching others' territory at once", schreibt ein User. Darunter schreibt eine andere Userin: "You are welcome to visit the territory of China since ancient times." User Minsky Minsky schreibt: "Ein Ort, der zu China gehört", Amegh Deshmukh kontert: "Ein Ort, der zu INDIEN gehört."

Das Gleiche in der Region um den Pangong-See oder Demchok. Egal welchen Ort man dieser Tage in den Regionen an der chinesisch-indischen Grenze im Himalaya anklickt: Die Wahrscheinlichkeit, dass in den Rezensionen territoriale Ansprüche zu finden sind, ist groß. Doch der Konflikt kocht nicht nur virtuell hoch. Seit einem Monat kommt es entlang der Grenze immer wieder zu Scharmützeln zwischen indischen und chinesischen Grenzsoldaten. Am Pangong-See in 4.200 Metern Höhe sollen bei einem Gerangel dutzende Soldaten verletzt worden sein. Und auch im Osthimalaya, in Sikkim, soll es zu ähnlichen Szenen gekommen sei. Die zwei Atommächte werfen sich gegenseitig vor, die jeweiligen Grenzen verletzt zu haben.

Während der Standoff in Sikkim auf lokaler Ebene beigelegt werden konnte, sollen sich an mindestens zwei umstrittenen Regionen im Westhimalaya etliche Soldaten weiterhin gegenüberstehen. Tausende wurden zur Verstärkung geschickt. Schon vor drei Jahren kam es am Doklam-Plateau, in der Nähe von Bhutan, zu ähnlichen Szenen. Was die aktuelle Krise im Westen ausgelöst hat, ist nicht ganz klar.

Immer wieder Grenzübertritte

Indien behauptet, chinesische Soldaten seien zu Tausenden in indisches Territorium eingedrungen. China widerspricht. Indien habe viel eher Infrastruktur auf chinesischem Territorium gebaut. Zugrunde liegt der alte Grenzkonflikt zwischen den zwei asiatischen Giganten, die sich entlang ihrer etwa 3.500 Kilometer langen Grenze nicht in allen Abschnitten auf den genauen Verlauf einigen können. Und diese umstrittenen Gebiete sind die Achillesfersen in den indo-chinesischen Beziehungen.

Zu kleineren Grenzübertritten kommt es regelmäßig, etwa 250- bis 300-mal im Jahr, schätzt Phunchok Stobdan, ehemaliger Botschafter Indiens und ein Kenner der Grenzpolitik. Sie dauern nur kurz an, während der Sommermonate, wenn neue Einheiten Orientierungs-Operationen durchführen und die im Winter aufgegebenen Posten sichten. Dass die Soldaten aber so tief in umstrittenes Gebiet eindringen und Zelte aufbauen, das sei ungewöhnlich, so Stobdan.

China und Indien sind Partner und Kontrahenten zugleich. Seit einem blutigen Grenzkrieg im Jahr 1962 waren die zwei Länder recht erfolgreich, vertraglich geregelte Mechanismen zu schaffen, um Waffengewalt zu verhindern. Seit 1975 ist kein Soldat entlang der Grenze getötet worden. Doch in den vergangenen Monaten wachsen die Spannungen wieder an. Beide Länder mobilisieren stark entlang der Grenze. Der Kampf um wertvolle Ressourcen und die Kontrolle über das Wassers der Region sind wichtige strategische Interessen. Aus dem Himalaya speisen sich bekanntliche etliche Megaflüsse Asiens.

Indiens Aufholjagd im Grenzbereich

China schien in den vergangenen Jahren die Nase vorn zu haben, beim Straßenbau, bei der Verlegung von Militärs, beim Bau von Staudämmen. Doch seit einigen Monaten versucht Indien aufzuholen. "Indien befindet sich nun auf der Beschleunigungsspur", attestiert Stobdan. Ein Militärflughafen wurde reaktiviert. Straßen im Grenzgebiet werden sukzessive ausgebaut. Vor allem der Straßenbau in Galwan schien für China nun das Fass zum Überlaufen gebracht zu haben.

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Die Satellitenaufnahmen zeigen ein Flugfeld auf der chinesischen Seite im tibetischen Ngari Günsa am 1. April (links) und am 17. Mai (rechts).
Foto: AP

Peking hat bisher zu dem Standoff wenige Worte verloren. Die staatlich kontrollierte "Global Times" veröffentlichte vor wenigen Tagen allerdings einen Bericht über eine groß angelegte Übung der Volksbefreiungsarmee (PLA): Infiltrierung im Hochgebirge hinter Feindeslinie war das Ziel der Übung – ein klares Zeichen an den Nachbarn im Süden.

Ladakh als Spielball der Großmächte

Die militärische Aufrüstung belastet wiederum die Lokalbevölkerung, die schon seit Jahrzehnten Spielball der Großmächte ist. Ladakh war jahrhundertelang ein geschäftiger Umschlagplatz, bis die Konflikte im Dreiländereck Pakistan, China und Indien den Handel zum Erliegen brachten. Die Grenzen sind dicht. Was einst als Durchzugsort von Händlern und Reisenden zum und vom tibetischen Hochplateau galt, ist nun das Ende der Welt. Die Region hatte über die Zeit auf Tourismus umgesattelt. Durch Corona ist nun auch der beinahe zum Stillstand gekommen. Allein in den vergangenen Wochen seien tausende indische Soldaten in die Region um den Pangong-See verlegt worden, erzählen Anrainer.

"Es sind die Lokalbevölkerung und das fragile alpine Klima, die am meisten unter dem nationalistischen Gehabe von China und Indien leiden", meint Ruth Gamble von der australischen La-Trobe-Universität. Sie sieht das Muskelspiel der Länder als Teil einer steigenden nationalistischen Rhetorik und einer Starker-Mann-Politik – auf beiden Seiten, Indien und China. Chinas Präsident Xi Jinping und Indiens Premier Narendra Modi bräuchten "einen nationalistischen Boost, um ihre Bürger von Coronavirus und anderen Problemen abzulenken".

Gegenseitige Vorwürfe

Das sehen die zwei Länder selbst anders. Indien wirft China vor, aggressive Politik zu betreiben, weil das Land international in die Enge getrieben wurde. Corona und die Vorkommnisse in Hongkong haben das Image des Landes schwer beschädigt. Auch die Vorwürfe zu Umerziehungslagern in Xinjiang haben keine guten Schlagzeilen gemacht. "Umso besorgter China ist, umso mehr zeigt es, dass es mächtig ist", sagt Stobdan. "Dann wird es streitlustig. Und in Ladakh ist der Einsatz viel geringer, als sich mit Taiwan anzulegen oder an anderen Fronten im Indo-Pazifik."

Für China ist die Situation auch klar: Indien hat mit wirtschaftlichen Probleme zu kämpfen und die Corona-Krise nicht im Griff. Also versuche der Subkontinent von innenpolitischen Problemen abzulenken – mit aggressiven Maßnahmen. Dazu gehörte auch die Aussetzung der Autonomierechte Kaschmirs vergangenen Sommer. Im Zuge dessen wurde außerdem Ladakh vom Bundesstaat Jammu und Kaschmir getrennt – Ladakh untersteht als Union Territory nun direkt Delhi. Peking hat das scharf kritisiert.

Peking und Delhi driften auseinander

Noch vor drei Jahren haben sich Xi und Modi auf einem bilateralen Gipfel in Wuhan die Hände geschüttelt – und damit auch die damaligen Probleme in Doklam medienwirksam beigelegt. Doch seit der Teilung Ladakhs wird es wieder frostiger. "Es ist möglich, dass China die Teilung benutzt, um seine eigenen Interessen in Ladakh zu verfolgen. Offensichtlich gibt es gemeinsame strategische Überlegungen zwischen China und Pakistan", analysiert Stobdan. Indien beschloss unterdessen am Donnerstag eine Militärkooperation mit Australien; vor wenigen Wochen, knapp vor Corona, empfing Modi US-Präsident Donald Trump mit großem Getöse in Indien.

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Die Interessen von Chinas Xi (lnks) und Indiens Modi (rechts) im Himalaya lassen sich nur schwer zusammenbringen.
Foto: AP/Manish Swarup

Die zwei asiatischen Riesen driften wieder weiter auseinander. An einem offenen Krieg ist aber weder Indien noch China interessiert. So trafen sich am Samstag hochrangige Generäle beider Militärs, um die Konfrontation hoch im Himalaya zu beenden.

Im Anschluss an die Gespräche sagte ein Sprecher der indischen Armee lediglich, dass beide Seiten weiter über ihre militärischen und diplomatischen Kanäle in Kontakt blieben, "um die gegenwärtige Lage in den Grenzgebieten zwischen Indien und China anzusprechen".

Eine Lösung des Standoffs in Galwan und am Pangong-See ist zu erwarten. Ein Ende des schwelenden Konflikts ist aber nicht in Sicht – zu gewichtig sind die jeweiligen Interessen der beiden Staaten im Himalaya, als dass Indien oder China auf ihre Territorialansprüche verzichten würden, um endlich den Grenzverlauf zu lösen.

"Beide Seiten müssten dafür Territorien aufgeben, die sie seit 70 Jahren für sich beanspruchen, aber nie kontrolliert haben", meint Gamble. Möglich wäre das, meint die Professorin. "Aber es müsste in einer Art und Weise geschehen, in der beide Staatschefs ihr Gesicht wahren könnten. Das ist bisher nicht geschehen." (Anna Sawerthal, 5.6.2020)