In der Geschichte des Fußballspielens ist eine der spannenderen Figuren zweifellos der Libero. Dieser wurde einst – als das Kicken noch eine strengere Rollenzuordnung vorgesehen hat – von den erdgebundenen Pflichten des sturen Manndeckens entbunden. Er durfte zuweilen sogar seinen Eingebungen folgen. Wenn die zum Erfolg führten, lobte der Trainer den Libero. Wenn nicht, dann hatte zumindest das Publikum etwas davon. Denn im engen Korsett taktischer Diszipliniertheit waren und sind solche Eigenmächtigkeiten die Momente spielerischer Schönheit. Oder auch Tollpatschigkeit. Je nachdem.

Die Rolle des Liberos bietet eine große Möglichkeit für individuelle Interpretationen. Als Spielzerstörer lässt er sich ebenso anlegen wie als Spielgestalter. Franz Beckenbauer war diesbezüglich fast stilprägend. Nicht zuletzt ihm ist der gute Ruf dieses Rollenfachs zu verdanken. Beckenbauer nahm sich jene Freiheit, die im Namen steckt. Dass er dies nur tun konnte, weil andere – allen voran sein Vorstopper Hans-Georg Schwarzenbeck – ihm den Rücken freihielten, schmälert nicht die Eleganz, die er in den bundesdeutschen Fußball brachte.

Erst der Riegel ...

Der Ball und der Beau: Franz Beckenbauer nahm sich die Freiheit, mit dem Ball zu gehen, wie andere auf einen Ball gehen.
Foto: imago images/Sven Simon

Dabei ist die Erfindung der Libero-Position jene Tugend, die einer aus der Not heraus gebiert. Der Wiener Karl Rappan hat in den 1930er-Jahren der schweizerischen Nationalmannschaft ein neuartiges Defensivsystem angemessen, den sogenannten Schweizer Riegel. Mit dem gelangen – trotz der ballesterischen Scharten, die Rappan mit der neuen Taktik ja ausdengeln wollte – spektakuläre Erfolge.

Der Schweizer Riegel war eine Mischung aus Mann- und Raumdeckung. Die Außenläufer hemmten, gwandlausartig sich an sie hängend, die gegnerischen Flügel. Hinter der mannorientierten Innendefensive kreuzte der Libero. Er und der zum Vorstopper mutierte Centerhalf verschoben, sie waren der Riegel, der sich bewegte, Überzahlsituationen herstellte und im gelungenen Fall das Tor zum Tor versperrte.

Rappan nannte die Position hinter der Abwehr, dem Augenschein näher, noch nicht Libero, sondern Ausputzer. Nach dem Zweiten Weltkrieg brillierte ein junger Klubkollege Rappans in dieser Rolle. Aber Ernst Happel interpretierte in der großen Rapid-Mannschaft der frühen 1950er-Jahre diesen Ausputzer aufregend neu. Spielerischer. Eleganter. Gewitzter. Man könnte sagen beckenbauerisch, wenn es nicht genau umgekehrt gewesen wäre.

Die endgültige Rollenbezeichnung stammt aus dem Italien der 1960er-Jahre. Dort hat der argentinische Trainer Helenio Herrera der Internazionale in Mailand einen Schweizer Riegel verpasst und sie so zur "Grande Inter" geformt. Auf Italienisch heißt Riegel Catenaccio. Unter diesem Namen zog die Mutter aller Defensivsysteme seither eine manchmal durchaus schmähliche Spur durch die Geschichte des Fußballspielens. Aber immerhin hinterließ Herrera den inspirierenden, wenn auch etwas irreführenden Begriff: Libero. Der freie Mann. Armando Picchi hat ihn damals bei Inter mit beinhartem Leben erfüllt. Viele nach ihm mit Esprit.

... dann der Libero

Wie alles andere, so ist auch das Fußballspielen der Mode unterworfen. Eine Zeitlang galt das Spiel mit Libero als Krönung der ballesterischen Schöpfung. Die Älteren werden sich vielleicht noch an Erich Obermayer erinnern, von der großen Austria der 1970er-Jahre. Dann war der Libero so verpönt wie die Manndeckung. Jetzt aber scheint er sich – allmählich und in neuem Gewand – wieder einzuschleichen. Hinterrücks, noch ein wenig verschämt. Die defensive Dreierkette, durch die Flügelläufer zur Fünferabwehr verstärkbar, erinnert mit der Innenraute tatsächlich frappant ans Spiel mit dem Libero, auch wenn man den dann Abwehrchef nennen mag. Der Vorstopper heißt jetzt Sechser. In mancherlei Hinsicht hat dieser die spieleröffnenden Eigenschaften des Liberos übernommen, weshalb man ihn auch keinesfalls Vorstopper nennen darf.

Der moderne Sechser, den es in anderer Formation auch in der Variante Doppelsechser und kippender Sechser gibt, beherrscht nicht nur Grätsche und Bodycheck, sondern genauso den langen Ball, mit dem dann getan wird, was Herrera und Rappan vorgeschwebt ist, Jürgen Klopp zur Perfektion verfeinerte und schon Ausputzer Happel in seinem dann flämisch-wienerischen Trainer-idiom gerne "spezifike Kontraattacks" genannt hatte. Pressen, angasen, ruckzuck!

Erich Obermayer (re.) neben Herbert Prohaska und Edi Krieger.
Foto: imago images/Sven Simon

Dass die schöne Bezeichnung bis heute eine defensive Position beschreibt, ist zwar schade, aber verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass die Entwicklung des modernen Fußballs mit der Notwendigkeit begann, die plötzliche Torflut einzudämmen, die 1925 durch die Änderung der Abseitsregel – nur zwei statt bis dahin drei Abwehrspieler müssen hinterm angespielten Angreifer stehen – entstanden ist. Herbert Chapman maß seinem FC Arsenal daraufhin das sogenannte W-M-System an.

Die bislang zwei Backs wurden durch den Centerhalf zu einer Dreierabwehr formiert, die durch die Außenläufer an den Flügeln fallweise verstärkt wurden. Und die Verbinder – bislang Bestandteil der Stürmerreihe – rückten ins Mittelfeld. Es dauerte ein bisschen, aber in den 1930er-Jahren war Arsenal eines der führenden Teams auf der Insel. Und aus dem Centerback des 3-2-2-3 erwuchs Rappans Libero.

Das war aber noch nicht die ganze Chapman’sche Revolution. Er war es erst, der die Spieler einem strikten Matchplan unterworfen hat, über den er sich die Hoheit anmaßte. Bis dahin galt als unbestritten, dass der Playing Captain vorgab, wie man es anlegen werde. Chapman war der erste NonPlaying Captain des Fußballs. Er erfand so das ballesterische Regietheater.

Auf den herkömmlichen Bühnen hat diese Entwicklung schon um die Jahrhundertwende eingesetzt. Der große englische Theatertheoretiker Gordon Craig träumte etwa von der "Über-Marionette", die den Kopf des Regisseurs ohne Brechung durch störende Schauspielereigenheiten in Szene setzen könne. Jeder Fußballtrainer seit Chapman träumt nicht minder vom absoluten Regietheater, sozusagen dem Totaalvoetbal, mit dem einst Ajax Amsterdam den Geist des Catenaccio zu Grabe getragen hat.

Aber selbst der totale Fußball von Ajax, den Coach Rinus Michels auf unzähligen Proben zu einem perfekten Maschinentheater eingeübt hatte, benötigte einen wie Johan Cruyff: einen Libero im moderneren, zugleich aber auch sehr alten, dem Fußball überhaupt eingeschriebenen Sinn. Einen, wie ihn Alfred Polgar wohl gemeint hat, als er 1939 dem Matthias Sindelar beschreibend nachgerufen hat: "Er hatte sozusagen Geist in den Beinen, es fiel ihnen, im Laufen, eine Menge Überraschendes, Plötzliches ein."

Johan Cruyff: ein Libero im moderneren, zugleich aber auch sehr alten, dem Fußball überhaupt eingeschriebenen Sinn.
Foto: ullstein - Schirner X / Ullstein

Solche Spieler sucht und fürchtet jeder Trainer. Sie stören ja eigentlich. Sie bringen Pläne durcheinander. Passen nie ins Konzept. Tun Dinge, die nicht besprochen worden sind. Wenn ihnen misslingt, was ihnen an Plötzlichem eingefallen ist, geht ihnen der Regisseur folgerichtig an die Gurgel. Andernfalls fällt er ihnen aber– auch folgerichtig – um den Hals.

Am Ende das Schlamassel

Auch oder gerade so ein Spieler ist, unabhängig von der Position, ein Libero. Ein freier Mann in den eng gefassten taktischen Vorgaben. Er ist – oder hat sich sogar selbst – entbunden von der engen Rollen- und Positionsbeschreibung. Ein Sechser, ein Achter, ein Zehner, ja sogar eine falsche Neun: Der Libero kann in vielen Rollen auftauchen. Und große Freude machen.

Aber immer wird es Momente geben, wo so einer den Trainer auf die Palme bringt. Denn neben allem anderen, das der Fußball auch ist, wird in ihm auch der ewige Widerstreit zwischen der Ordnung und dem Chaos zur Darstellung gebracht. Darum trifft auch eine weiter gefasste Vorstellung vom Libero nicht alleine das Rollenfach eines Spielmachers. Der hält ja – meist sogar als verlängerter Arm desTrainers – bloß die Ordnung. Der Libero aber richtet zusätzlich noch jenes Chaos an, das hoffentlich die anderen – aber zuweilen halt auch die Eigenen – in die Verwirrung stürzt. Eine Mannschaft aus lauter solchen Liberos wird untergehen. Eine ohne solche allerdings erst recht. Der Trainer kann nur hoffen, dass die Mischung stimmt. Man werde also, erklärte einst der weise Josef Hickersberger als österreichischer Teamchef, "nicht die Besten, sondern die Richtigen" auf den Platz schicken.

Auf dem findet sich dann eh die Wahrheit. Die mag zwar nicht immer in der Mitte liegen. Aber doch halbwegs in der Balance von freiem Tun und disziplinierter Strenge, von Gehorsam und Ungehorsam, Selbstbild und Fremdbestimmung, Absicht und Einsicht, Planung und Zufall. Und dann gibt es, leider oder Gott sei Dank, auch noch den Gegner. "Beim Fußball", erläuterte einst der Pariser Edel-Aficionado Jean-Paul Sartre, dem es um nichts mehr gegangen ist als um die Freiheit, "verkompliziert sich alles durch die Anwesenheit der gegnerischen Mannschaft."

Auch hierin ist der Fußball wenig mehr als ein Sinnbild: dass alles stets die Neigung hat, zum Schlamassel zu werden. Und aus dem heraus helfen dann sowieso weder Taktik noch Matchplan. Nur der freie Mann, der da läuft und läuft und läuft. Und, im Laufen fällt ihm dann womöglich jede Menge Überraschendes, Plötzliches ein.

So jedenfalls, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, die Hoffnung, die einen von Matchtag zu Matchtag trägt. (Wolfgang Weisgram, 9. 6. 2020)