Billund – Aus sechs Lego-Bausteinen mit acht Punkten lassen sich 915 Millionen Kombinationen zusammenbauen. In den drei Dinosauriern, die Besucher im Lego-House in der dänischen Kleinstadt Billund begrüßen, sind mit Sicherheit Millionen dieser Varianten verbaut. Die lebensgroßen Riesenechsen sind nur einige der gewaltigen Ausstellungsstücke in der 12.000 Quadratmeter großen Erlebniswelt am Sitz des weltgrößten Spielzeugproduzenten, die auch von außen wie ein überdimensionales Lego-Bauwerk aussieht.

Dieser Baum ist das größte Lego-Bauwerk der Welt. Er wiegt 20 Tonnen und besteht aus 6,3 Millionen Steinen.
Foto: Lego House

Ein passendes Bild, mögen sich ältere Jahrgänge beim Anblick der Saurier denken. Viele wuchsen mit den gleichen Lego-Steinen auf, die nun hier zu bewundern sind. Aber anders als die prähistorischen Reptilien ist Lego nicht ausgestorben. Das Familienunternehmen hat über die Jahrzehnte mehrere Krisen durchlebt, sich aber stets erfangen, indem es sich an die Wünsche der nächsten Kindergeneration angepasst hat.

Was im Inneren aus den kleinen Steinen erschaffen wurde, beeindruckt. Selbst wer seine Definition von Kunst eher bei den Exponaten des Pariser Louvres ansiedelt, muss den Kunstbegriff hier ausweiten. Inmitten des Hauses etwa ragt ein knapp 16 Meter hoher Baum in die Höhe. Er besteht aus 6,3 Millionen Steinen, wiegt 20 Tonnen, und ein einzelner Mensch würde zwölf Jahre brauchen, um ihn aufzubauen. Das größte Lego-Bauwerk der Welt.

Hochzeit unter Steinen

Es ist ein Eldorado für Lego-Fans und spricht nicht nur Kinder und Familien an. Billund gilt als das Mekka von erwachsenen Lego-Fans, den sogenannten AFOL (Adult Fans of Lego). Sie zelebrieren das Bauen wie sonst keiner und beherzen den Firmennamen. Firmengründer Ole Kirk Kristiansen setzte dafür die dänischen Wörter "Leg" und "godt" zusammen, heißt auf Deutsch so viel wie "spiel gut". Die hingebungsvollsten Paare lassen sich sogar zwischen den Steinchen trauen. Beim Arrangieren von Heiratsanträgen, ist die Belegschaft bereits geübt.

Kinder und deren Spielverhalten veränderten sich im Lauf der Zeit grundlegend. Für Spielzeughersteller bedeutet das, sich stetig anzupassen und mit den Jugendtrends Schritt zu halten. Lego hat dies bemerkenswert geschafft – mit einem Produkt, das grundsätzlich immer gleich bleibt und sich dennoch weiterentwickelt. Das erfordert eine Gratwanderung, während der Lego nicht nur einmal fast abgestürzt wäre.

Im Lego-House werden Besucher auf vier verschiedenen Ebenen Besucher auf unterschiedlichen kognitiven Ebenen gefordert: Zum Beispiel im klassischen Bauen aber auch im Zusammenspiel mit Computertechnik.
Foto: Lego House

Ein arbeitsloser Tischler

Es begann mit einem arbeitslosen Tischlermeister in der Weltwirtschaftskrise der 1930-Jahre. Ole Kirk Kristiansen baute aus Holzresten zusammensteckbares Spielzeug und hatte von Anfang an Erfolg. Der setzte sich fort, als 1949 Plastik das Holz ablöste. Doch vor 20 Jahren drohte das auf kleinen Steinen gebaute Imperium zu zerbrechen. 1998 schrieb Lego erstmals seit seiner Gründung einen Verlust von damals 28 Millionen Dollar. Tausend Angestellte verloren ihren Job. Rund fünf Jahre lang dauerte die Durststrecke.

Permanenter Wachstumsdrang hatte Lego in die Krise geführt. Kleidung, Bücher, Schmuck – Lego wollte bei jedem Trend mitschwimmen und vernachlässigte dabei das Kerngeschäft. Zu allem Überfluss öffnete ein Legoland-Themenpark nach dem anderen. Das verschlang viele Ressourcen und noch mehr Geld, vor allem weil den Dänen in diesem Marktsegment das Know-How fehlte. Dem Chefdesigner zufolge hatte das Unternehmen das Vertrauen in den kleinen Stein verloren – die Identitätskrise war perfekt.

Zur Konzernrettung wurde erstmals ein Geschäftsführer gerufen, der nicht zur Gründerfamilie Kristiansen gehörte. Der damals 35-jährige Jørgen V. Knudstorp führte Lego mit harten Umstrukturierungsmaßnahmen wieder auf die Gewinnerseite. Er holte sich Inputs von den wichtigsten Kunden, den Kindern. Er ließ Designer bei Familien mit Kleinkindern wohnen, um Spielverhalten zu verstehen. Er flachte Hierarchien ab und reduzierte das Produktionsvolumen auf die Hälfte.

Kaum menschliche Gesichter

Beim Betreten der Produktionshalle lässt schon der Geruch auf Plastikproduktion schließen – nicht unangenehm, aber doch eindeutig. Menschliche Gesichter findet man nicht viele, kleine gelbe Köpfe laufen dafür zu tausenden vom Fließband. Roboter in Form von Kästen fahren durch die Hallen und liefern Material von A nach B. Lego basiert auf herkömmlichen Plastikgranulatkügelchen. Diese werden auf 230 Grad erhitzt, eingefärbt und von vollautomatischen Spritzgießmaschinen in Formen gegossen. Die Formen gelten als Herzstück der Fabrik und dürfen nur aus gewissen Winkeln fotografiert werden.

In zwölf Hallen laufen jeweils rund 64 Maschinen, die von zwei Menschen betreut und überwacht werden.
Foto: Danzer

"Wir produzieren 4,7 Millionen Lego-Steine pro Stunde, das entspricht 1300 Steinen pro Sekunde", sagt eine Lego-Mitarbeiterin während der Tour durch die Fabrik in Billund, in der rund 700 Menschen arbeiten. "Jeder Stein wird zehnmal auf die entsprechende Qualität geprüft." Eine entscheidende Rolle spiele die Klemmkraft, Fünfjährige müssten mit den Steinen leicht hantieren können. Der zugelassene Spielraum für Abweichungen entspricht in etwa der Hälfte eines menschlichen Haars.

Angesichts der drohenden Klimakatastrophe ist ein Plastikprodukt nicht mehr zeitgemäß. Lego will daher von erdölbasiertem Plastik für die eigenen Produkte wegkommen, aber: "Es gibt momentan kein organisches Material, das unseren Anforderungen entspricht. Spätestens 2030 werden wir eines gefunden haben", sagt der heutige Lego-Chef Niels Christiansen dem STANDARD.

Biegbare Teile wie Bäume werden bereits alternativ aus Zuckerrohr produziert. Für den klassischen Stein sei das Material aber zu weich. Ganz schlechtreden will Christiansen sich seine Plastiksteinchen aber auch nicht. "Lego kann über Generationen weitergegeben werden, das ist kein Einwegplastik, das im Ozean landet." Dennoch sind die "guten Plastiksteine" in der Kartonbox im "schlechten" Einwegplastik verpackt.

Abermals Krise abgewunden

Von 2004 bis 2016 hatte Lego seinen Umsatz mehr als versechsfacht, doch 2017 drohte sich die Krise zu wiederholen. Die Dänen hatten kräftig investiert, dann aber weit weniger als erwartet verkauft. Sie strichen 1400 Jobs. Knudstorp war Anfang des Jahres in den Vorstand gewechselt, und der Brite Balo Padda übernahm das Ruder. Was folgt, ist harte Konzernrealität. Zwar ging Lego nie an die Börse, doch wenn die Zahlen nicht passen, werden Köpfe ausgetauscht – fast wie bei den Figuren. Somit räumte Padda den Platz an der Spitze nach nur acht Monaten.

Das 2017 eröffnete Lego-House dient neben einer Erlebniswelt auch als Museum und einer Hall of Fame. Im Keller sind die 250 beliebtesten Sets aller Zeiten ausgestellt und wer schon einmal mit Lego gespielt hat, sinkt hier unweigerlich in nostalgische Gedanken.
Foto: Danzer

Im Oktober 2017 übernahm der Däne Christiansen die Geschäftsleitung und begann zu restrukturieren. Bei der heurigen Bilanzpressekonferenz im März präsentierte er einen Umsatzrekord.Er begründet das Ergebnis so: großes Wachstum in China, gute Performance der Themensets "Star Wars" und "Harry Potter" sowie ständige Innovationen. "Wir tauschen jährlich 60 Prozent unserer Produkte aus", sagt er. "Lego City oder Ninjago sind Evergreens, wer sich zu einem entwickelt, können wir aber nie vorhersagen." Eine Polizeistation oder ein Feuerwehrhaus werde es immer geben.

Die "Star Wars"-Reihe verkörpert wohl am besten einen Punkt, der viele abschreckt: der Preis. Anders als bei Lego City oder Lego Technic fallen hohe Lizenzsummen an, was den Preis für die "gleichen" Steine massiv in die Höhe treibt. Doch "Star Wars" oder "Harry Potter" bringen sehr viel Umsatz.

Sexismus im Kinderzimmer

Wesentlich simpler waren die ersten "Lego-Menschen", die in den 1970er-Jahren das Licht der Welt erblickten. Gelbe Figuren frei von ethnischer Zugehörigkeit, Religion und Nationalität. Warum Lego geschlechterspezifische Trennung einführte, ist schnell erklärt: aus Profitgründen. Während der 2000er-Krise und davor waren die Steinchen bei Buben beliebter als bei Mädchen. "Wir wollten alle Kinder erreichen, deshalb erschufen wir ‚Mädchen-Produkte‘ wie Lego Friends", so Christiansen. Für Friends warf man sogar das Grundkonzept – die Kompatibilität aller Steine – über den Haufen. Die Figuren sind größer.

Neben der Kritik am Gender-Marketing ist Lego auch Sexismusvorwürfen ausgesetzt, weil Frauen als Stereotype verkörpert werden. In jüngerer Vergangenheit hagelte es 2018 einen ordentlichen Shitstorm für eine Werbekampagne des Spielzeuggiganten. Die Reihe Lego Men wurde mit Slogans wie "So kompliziert wie eine Frau. Aber mit Bedienungsanleitung" oder "4057 Teile. Das nennen wir gut bestückt." beworben. Dafür entschuldigte sich Lego rasch und zog die Kampagne zurück. Es dauerte lediglich ein Jahr bis zum nächsten Aufreger. Ende 2019 erschien ein Cartoon im Lego Friends Magazin, der signalisierte, dass Wissenschaft kein Feld für Frauen sei.

So wie Lego selbst entwickeln sich auch die Steinchen-Dinos im Lego-House weiter. Regelmäßig "schlüpfen" aus den Eiern neue Lego-Saurier und vergrößern so den Bestand.

Foto: Danzer

Die Kritik kennt der Firmenchef und reagiert pragmatisch: "Ich sehe die Kritik als wertvolles Feedback." Es sei nie geplant gewesen, Mädchen Stereotype umzuhängen, man habe die Problematik bloß nicht gesehen und es sei unglücklich gelaufen.

Kritikpunkt Kritik

Diese Aussagen decken sich nicht immer mit der Handhabe von Kritik. Thomas Panke betreibt den Youtube-Kanal "Held der Steine" mit mehr als 300.000 Abonnenten. Um seine Unabhängigkeit und Authentizität zu wahren, verzichtete er auf Gratiszusendungen. Mal kritisierte er die hohen Preise, ein anderes Mal wies er auf Qualitätsmängel hin.

Lego forderte Panke mit einem Anwaltsbrief auf, sein Logo zu ändern, da es zu sehr an das Firmensymbol erinnere und Verwechslungsgefahr bestehe. Panke wollte es zuvor als Markenzeichen eintragen lassen. Panke hatte flott reagiert und das Logo bereits geändert. Resultat: großer Unmut der Fans. Der Streit wurde kurz darauf ad acta gelegt und auch hier spricht Lego von einem "unglücklichen Verlauf".

Held der Steine Inh. Thomas Panke

Doch diese negative Publicity schadet dem Ruf nicht. Das Reputation Institute kürte Lego im Global Reptrak 2020 zum vertrauenswürdigsten Unternehmen der Welt.

Digitale Konkurrenz

Kann ein derart altes, analoges Produkt in einer immer digitaleren Welt überhaupt bestehen? Trotz Krisen offenbar ja. Erstmals gab es Ende der 1990er-Jahre Konkurrenz im Kinderzimmer, als Playstation und Nintendo Kinder mit Konsolen in ihren Bann zogen. Seiher kommen die Dänen an der Digitalisierung nicht vorbei. Es gibt Plattformen zur Interaktion, unzählige Videospiele und smarte Lego-Sets. Für die "volle Experience" brauchen Kinder jedoch ein Smartphone, um Dinge zu scannen. Kritiker bemängeln, Kinder gezielt ans Handy zu treiben. Lego sieht darin eher eine Chance, dass Kinder Digitales und Haptischer verbinden.

Dass das große Geschäft mit den kleinen Steinen zu Ende geht, glaubt bei Lego niemand. Warum sollten sich Eltern gegen ein Spielzeug für ihre Schützlinge verwehren, das nachweislich räumliches Denken, Feinmotorik und Kreativität fördert? Und auch die Kinder wissen: Mit Lego wird fast alles möglich. (Andreas Danzer aus Billund, 6.6.2020)