Klaus Vieweg ist Professor für Philosophie in Jena. Im Gastkommentar anlässlich der STANDARD-Schwerpunktausgabe Freiheit widmet er sich dem Aspekt was Freiheit wirklich ist – und was nur reine Willkür. In einem weiteren Gastkommentar beschreibt Sebastian Gruber, Redakteur bei "Andererseits", was für ihn Freiheit bedeutet. Sprachphilosoph und Politikwissenschafter Paul Sailer-Wlasits widmet sich Risiken, Grenzen und Umcodierungen von Freiheit.

Schutzmasken, Sperren und Co: War die zeitweilige Aussetzung von Rechten legitim? Die gesetzten Maßnahmen rechtens?
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In der Corona-Krise hört man von manchem das Gerede von den jetzt eintretenden "Einschränkungen von Freiheitsrechten". Der Staat beschneide die Freiheit der Einzelnen. Dies ist auch ein Ergebnis der in den letzten Jahrzehnten zumeist vorherrschenden Fehldeutung von Freiheit. Es wird eben nicht präzise zwischen Freiheit und Auswählen von Varianten unseres Tuns unterschieden. Das bloße Wählen bezeichnet die Philosophie als Willkür, und zwar im Sinne, dass eine Möglichkeit des Tuns einfach auserkoren, gekürt wird.

Es herrscht die törichte Meinung, "die Freiheit überhaupt sei dies, dass man tun könne, was man wolle" (Georg Wilhelm Friedrich Hegel), ein weitverbreiteter Unverstand. Wenn es verboten ist, im eigenen Garten hochtoxischen Müll zu entsorgen oder vor Kindergärten mit dem Auto 200 km/h zu fahren, könnte dann von einer Einschränkung der Freiheit gesprochen werden? Alle solchen Einschränkungen der Willkür, der vermeintlichen Freiheit, werden bei der Reduktion von Freiheit auf Willkür dann als Zwang, als Gängelung, Restriktion, Einmischung oder Repression disqualifiziert. "Willkür heißt man zwar oft gleichfalls Freiheit; doch Willkür ist nur die unvernünftige Freiheit, das Wählen und Selbstbestimmen nicht aus der Vernunft des Willens." (Hegel).

Freie Selbstbestimmung

Viele verwechseln noch immer Freiheit und Willkür. Tun können, was man will, die Willkür, ist zwar ein notwendiges, aber nicht hinreichendes Moment des freien Willens. Ein menschlicher Akteur hat ein mannigfaltiges Spektrum von möglichen auszuwählenden Gegenständen oder Objekten vor sich, ein vielfältiges Feld von Alternativen, er kann so oder anders agieren. Es liegt in der Wahl des Einzelnen, sich für diesen oder einen anderen Inhalt zu entscheiden. Das Moment des Wählens annonciert somit ein unverzichtbares Bestimmungselement des Willens.

Aber wir haben es bei der Willkür noch nicht mit dem vernünftigen Willen zu tun, weil die Entscheidung noch nicht durchdacht ist. Menschen vermögen einen eigentümlich-eigensinnigen Standpunkt festzuhalten. Dieses Element freier Selbstbestimmung kann aber nicht sofort als vernünftige Freiheit gelten, weil ja hier das Selbstbestimmen nicht aus Vernunft erfolgt. Inhumanes Tun, Verbrechen oder unmoralisches Verhalten entspringen auch dem Wählen, sind jedoch kein freies Handeln. Auch gibt es verschiedene Perversionen des Freiheitsbegriffs, bei Entlassungen wird oft vom "Frei-Setzen" gesprochen, ganz zu schweigen von der Nazi-Parole, dass Zwangsarbeit frei mache. Ebenso ist die Rede von einem freien Markt, der doch nur ein "Wimmeln von Willkür" darstellt und vernünftiger Ordnung und Regulation bedarf, unsinnig.

Pures Wählen und freies Entscheiden

Von einem freien Willen kann erst dann die Rede sein, wenn er das Entschließen auf Nachdenken gründet. Von dem anfänglichen bloß zufälligen Wählen sollte das Entscheiden über ein vorstellendes, bewusstes über ein kluges, kalkulierendes, reflektierendes, verstandesmäßiges Auswählen schließlich bis hin zur denkenden Wahl, zum freien Willen als eines gebildeten Wollens und Tuns aufsteigen. Nochmals: Die Fähigkeit, sich zu diesem oder jenem zu bestimmen, stellt ein wesentliches Moment des freien Willens dar, keineswegs aber die Freiheit selbst.

Der Unterschied zwischen dem puren Wählen und dem freien Entscheiden sollte deutlich werden, das Gewicht des Reflektierens und Denkens, die Orientierung des freien Willens am Vernünftigen. Was gilt für Ausnahmesituationen, worin sich eine Veränderung des "Normalen" vollzieht (Naturkatastrophe, Krieg, Epidemie)? Einfaches Beispiel: Das Gewaltmonopol des Staates und damit der Ausschluss von Selbstjustiz gilt uns als hoher Wert. Im Falle der Notwehr, also einer bedrohlichen Notsituation für meine Gesundheit oder gar für mein Leben, kann dieses Prinzip zeitweilig und verhältnismäßig außer Kraft gesetzt werden – ich darf mich gegen einen physischen Angriff verhältnismäßig wehren.

Durchdachte Einschränkung

Eine Pandemie ist ebenfalls eine solche Ausnahmelage, die eine verhältnismäßige und zeitweilige Ausweitung der Quarantänevorschriften und nur eine verhältnismäßige und zeitweilige Aussetzung bestimmter Rechte legitimiert. Dass dies schmerzliche Einschränkungen im Alltag und gewaltige Folgeschäden nach sich zieht, wird wohl kaum jemand bestreiten.

Aber die durchdachte Einschränkung sozialer Kontakte ist keinesfalls eine Einschränkung von Freiheit, sondern dient der weitgehenden Gesunderhaltung der Menschen, ist Begrenzung der nicht auf Vernunft gegründeten Auswahl des Tuns, ist Einschränkung der Willkür. Hier wird wohl ein sonst bestehendes Gesetzesgefüge eingegriffen, einem Ausnahmezustand angemessen. Dies geschieht zum Zwecke der Sicherung und Garantie des Rechts auf Leben als eines fundamentalen Rechts, eines grundlegenden Freiheitsrechts. Sollte die Verhältnismäßige und Zeitweilige durch die staatlichen Institutionen aber nicht zureichend vernünftig gestaltet sein, so gibt es das unbedingte Recht auf Widerstand, auch ein grundlegendes Freiheitsrecht in einer Ausnahmelage.

Virus Dummheit

Die wichtigste Stimme in der Debatte über das Freiheitsverständnis ist bis heute Hegel mit seiner Verknüpfung von Vernunft und Freiheit: Von einem freien Willen kann erst dann die Rede sein, wenn das Entschließen und Wählen des Tuns sich auf vernünftiges Denken gründet – "wer das Denken verwirft und von Freiheit spricht, weiß nicht; was er redet". Und vergessen wir nicht: Die Menschheit leidet auch im 21. Jahrhundert am gefährlichsten Virus überhaupt – an der Dummheit, die sich pandemisch auf der Erde etabliert hat. Obwohl man dafür den Impfstoff kennt: Bildung, Bildung zur Freiheit. (Klaus Vieweg, 7.6.2020)