Im Winterwunderland Ischgl gibt es auch abseits der Pisten zahlreiche Freizeitangebote.

Foto: Lois Hechenblaikner

Ischgl dürfte vielen Menschen in Europa spätestens seit drei Monaten als einer der "klingenden Namen" der Corona-Krise wohlbekannt sein. Für Touristiker wäre der aktuelle Bekanntheitsgrad des kleinen Ortes im Tiroler Paznauntal mit nur 1.600 regulären Einwohnern eigentlich ein Traum. Leider gesellen sich zum bisherigen Image als eines der schönsten, größten und modernsten Skigebiete der Welt nun aber auch Begriffe wie "Après-Ski" oder "Kitzloch". Das Partydorf in schneesicheren 1.400 Metern Seehöhe gilt als eines der Epizentren der Pandemie mit vielen Schwerkranken und eben auch sehr, sehr vielen Toten.

Foto: Lois Hechenblaikner

Der 62-jährige Tiroler Fotograf Lois Hechenblaikner dokumentiert seit über 26 Jahren nicht nur den Tourismus in all seinen Verwerfungen. Zwischen Kitzbühel, Mayrhofen, Sölden oder St. Anton seien fernab von Postkartenidyllen die Zerstörung der Landschaft, der Verlust der Identität, vor allem aber die Unterordnung sämtlicher Lebensbereiche der "Einheimischen" zum Wohle des "Fremdenverkehrs" genannt. Vor allem Ischgl, das in der Öffentlichkeit nun nicht nur länger als alpines Wintersportparadies und Party-Hochburg mit hohem "Kennenlernfaktor", sondern eben auch als Covid-19-Hotspot Berühmtheit erlangte, beschäftigt den streitbaren Mann seit einem Vierteljahrhundert.

"Ibiza der Alpen"

Sein neues Fotobuch Ischgl dokumentiert von 1996 herauf die zunehmende Radikalisierung eines ehemals bitterarmen Bergbauerndorfs vom reinen Wintersportort zu einem seit den 1960er-Jahren mit 400 Hotels zugebauten "Ibiza der Alpen". Party, Party! Oans, zwoa gsuffa! Schön, toll, Anton aus Tirol! Um vier Uhr früh registrieren die im Fotobuch enthaltenen Polizeiberichte leider oft auch ausgeschlagene Zähne, Alkoholvergiftung und Notaufnahme.

Der Name Ischgl kommt übrigens aus dem Rätoromanischen und steht für "Insel". Eine Insel der Seligen? Der Bierseligen? Weinselig wegen Langeweile sollte jedenfalls niemand hier werden. In Ischgl wird heute mit drei Seilbahnen und 45 Liften für eineinhalb Millionen Übernachtungen pro Jahr und geschätzte 250 Millionen Euro Umsatz gesorgt.

Foto: Lois Hechenblaikner

Die junge Besitzergeneration betreibt einerseits, so wie der Besitzer der Après-Ski-Lokale Kitzloch und Kuhstall ein hochwertiges Hotel, ein Gourmetrestaurant und eine, so Hechenblaikner im Gespräch, "piccobello Biolandwirtschaft". Lois Hechenblaikner: "Es gibt tolle, ambitionierte Leute in Ischgl. Die leisten hier gastronomische Kulturarbeit!"

Andererseits gockeln die immer noch mit bäuerlichem Hintergrund gesegneten Herren der Saufhütten-Gastronomie, die im Gegensatz zum traditionellen Hotelgewerbe nun einmal die höchsten Gewinne bei geringstem Einsatz abwirft, gern mit tausend Euro teuren Fantasietrachtenjankern und italienischen Zuhälterschaukeln durch die Gegend. Auf einem Foto in Hechenblaikners Ischgl-Fotobuch sieht man in einer Garage in trauter Zweisamkeit einen alten Traktor neben einem neuen Ferrari parken. Es treibt einem schier die Tränen in die Augen.

Foto: Lois Hechenblaikner

Das sind nicht nur die nackten Zahlen in Ischgl, das ist eben auch die nackte Wahrheit. Die bisherige Gesamtsituation, mit der er aufgrund ihrer Auswüchse alles andere als zufrieden ist, sieht Lois Hechenblaikner gar nicht einmal negativ: "Die Menschen in Ischgl sind jetzt in Schockstarre. Ich hoffe, dass nun in gewisser Hinsicht ein Reinigungsprozess einsetzt." Ischgl habe es mit Corona ja auch eher zufällig getroffen. Das Gleiche hätte auch in Kitzbühel oder St. Anton oder im Zillertal passieren können. Immerhin gehe es dort ähnlich zu. Auch vom Geschehen abseits der Pisten in diesen Orten gibt es über die Jahrzehnte drastische Fotos von ihm.

Versuche, dem schlechten Ruf entgegenzuarbeiten

Hechenblaikner ist im Tourismus aufgewachsen, und er will, dass es ein guter ist. Immerhin würden sich vor allem jüngere Hoteliers und Gastronomen im Ort, mit denen er als gelernter Mann vom Fach grundsätzlich in gutem Kontakt steht, seit einigen Jahren auch darum bemühen, den mitunter schlechten Ruf Ischgls eben auch mit gehobener Küche, diversen Wellnessangeboten und einer gerade im Bau befindlichen Therme zu revidieren. Auch auf die Seilbahn- und Liftbetreiber lässt er erstaunlicherweise nicht allzu viel kommen. Im Gegensatz zu vielen anderen Skigebieten würden diese in Ischgl darauf schauen, dass in den Betrieb ständig investiert werde, dass modernisiert werde und nicht bloß das Geld mit dem Schaufelbagger zur Bank gefahren werde.

Foto: Lois Hechenblaikner

Den Ruf als Saufmeile für eine finanziell gut ausgestattete, aus der ganzen Welt anreisende Mittel- und Oberschicht wird der Ort trotz all dem vorhandenen "Winter Wonderland" und Pistenzauber trotzdem nicht mehr so schnell loswerden.

Lois Hechenblaikner nennt seine aus 26 Jahren destillierte Fotosammlung Ischgl, speziell über das Après-Ski-Unwesen in seinen schlimmsten Auswüchsen, ein "Heimat- und Volkskundebuch". In ein Museum wird er damit in Tirol zwar nicht so schnell kommen. Und auch ein Tourismusorden des Landes Tirol für die größte Rückholaktion deutscher Touristen seit der Piefke-Saga dürfte ihm nach Fotobüchern wie Winter Wonderland, Volksmusik oder Hinter den Bergen weiterhin versagt bleiben: "Den strebe ich nicht an!"

Emotionales Entlastungsgerinne

Mit scharfem, gnadenlosem Blick geht es Hechenblaikner eher darum, im Sinne eines Seismographen gesellschaftliche Beben zu dokumentieren. Die völlige Enthemmung bis zum Komasaufen in einem touristischen Hochpreissegment werde von Besserverdienern während durchschnittlich vier Tagen Aufenthaltsdauer bei alpinen Großevents wie Top of the Mountains für eines genutzt: Es solle damit ein emotionales Entlastungsgerinne für all den gesellschaftlichen Druck in einer Hochleistungssgesellschaft geschaffen werden.

Die Menschen hätten in ihrem heutigen Alltag laut Hechenblaikner kaum noch die Möglichkeit, einmal so richtig die Sau rauszulassen. Karneval in den Alpen! Hechenblaikner: "Man muss die Leute einlullen, sie wie Babys massieren, mit Gruppenanimation emotionalisieren." Den Rest erledige der Alkohol – und diese schreckliche "Fäkalmusik" in den Après-Ski-Hütten: "Eigentlich müsste ich vom Tourismusverband Schmerzensgeld bekommen für all die schreckliche Musik, die ich über die Jahre hören musste."

Foto: Lois Hechenblaikner

Ischgl, das sei auf dieser Basis abseits eines regulären Skitourismus immer auch "eine sexuelle Restplatzbörse": "Dort fahren zu 40 Prozent Geschiedene hin, der Großteil zwischen 40 und 50 Jahre alt. Die stehen alle noch voll im Saft." Alles geschehe allerdings auf freiwilliger Basis. Angebot und Nachfrage. "Ich habe noch nie einen Après-Ski-Wirt erlebt, der die Gäste mit der Peitsche in sein Lokal treibt, das geschieht ganz freiwillig", so Hechenblaikner.

Die Würde will Lois Hechenblaikner den Objekten seiner fotografischen Begierde jedenfalls nicht nehmen, "sonst könnte ich das nicht machen". Er versuche sich, so weit es geht, sozusagen als Chamäleon mit den Leuten zu freuen. Sie bezahlen für ihre Enthemmung schließlich gutes Geld.

Foto: Lois Hechenblaikner

"Ischgl. Relax if you can", das ist das laut Hechenblaikner "diabolische Werbemotto" dieser Skiregion.

Ob sich die Region jemals wieder von dieser Krise erholen wird? Solange jetzt ein Umdenken einsetze und, so wie in Hechenblaikners Buch dokumentiert, ein Abt eine neue Seilbahn im sündigen Ischgl mit Gottes Segen einweiht, während auf dem Foto daneben ein Betrunkener in einer Seilbahnstation liegt, besteht Hoffnung. Den Rest erledigt wohl oder übel der Klimawandel.

Im Wesentlichen vermitteln Lois Hechenblaikners Ischgl-Fotos bei all dieser vordergründigen Enthemmung und Lebensfreude auch eines: Wir sind ein zutiefst trauriges Volk. (Christian Schachinger, 8.6.2020)