Leserbriefe bieten Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, ihre Meinungen buchstäblich Seite an Seite mit prominenten Persönlichkeiten und führenden Politikerinnen und Politikern einer breiten Öffentlichkeit mitzuteilen und Stellung zu aktuellen Themen zu beziehen. Hans Dichand bezeichnete die Leserbriefschreibenden sogar als Mitgestalter der "Kronen Zeitung" und räumte ihnen großzügig Platz ein: Sieben Tage die Woche, auf zwei bis drei Seiten, bietet die Zeitung nach wie vor Platz für die Meinungen der "Krone"-Leserschaft.

Leserbriefe gehören zu den meistgelesenen Zeitungsteilen und nehmen eine wichtige Rolle im demokratischen Meinungsbildungsprozess ein, indem sie Platz für partizipativen Journalismus schaffen – also die Möglichkeit für Bürgerinnen und Bürger, so wie Journalistinnen und Journalisten an der Produktion von Information mitzuwirken. Sie gelten häufig allerdings auch als Forum für die Wütenden, die Widersacher, die Unzufriedenen, und damit ist davon auszugehen, dass Themen auf den Leserbriefseiten in einem negativeren Ton abgehandelt werden als im Rest der Zeitung. Aus Sicht der Zeitungsmachenden bieten die Leserbriefseiten die Möglichkeit, Meinungen und Themen abzubilden, die im redaktionellen Teil der Zeitung wohl keinen oder zumindest kaum Platz finden würden.

Ergebnisse zeigen, dass die Leserbriefseiten und der redaktionelle Teil der "Kronen Zeitung" sich durch unterschiedliche Themenschwerpunkte auszeichnen.
Foto: APA/AFP/JOE KLAMAR

Migration, Sicherheit und EU

Für die Studie wurden mittels quantitativer Inhaltsanalyse – durchgeführt im Rahmen von AUTNES an den Universitäten Innsbruck und Wien sowie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck – 2.273 Artikel der "Kronen Zeitung" während der Nationalratswahlkämpfe 2008, 2013 und 2017 untersucht. Davon waren 530, also knapp ein Viertel, Leserbriefe. Zudem konnten wir aus der AUTNES-Nachwahlbefragung die politischen Positionen der "Kronen Zeitung"-Leserschaft (Personen, die angaben, regelmäßig die "Kronen Zeitung" zu lesen) entnehmen.

Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Leserbriefseiten und der redaktionelle Teil der "Kronen Zeitung" sich durch unterschiedliche Themenschwerpunkte auszeichnen. Während wir die Außenpolitik oder Arbeitsmarktpolitik eher im redaktionellen Teil finden, beschäftigen sich die Leserbriefe vorwiegend mit Migration, Sicherheit und der EU.

Grafik: Lore Hayek, Manuel Mayrl, Uta Rußmann

Doch die redaktionelle Auswahl von Leserbriefen trifft die Meinung der (regelmäßigen) Leserschaft der "Kronen Zeitung". Leserbriefe in der "Kronen Zeitung" sind also nicht einfach ein Spiegel der Blattlinie, vielmehr zeigt die Analyse, wie Leserbriefe die Agenda der "Kronen Zeitung" ergänzen.

Grafik: Lore Hayek, Manuel Mayrl, Uta Rußmann

Noch kritischere Stimmen

Allerdings ist der Ton der Leserbriefe deutlich negativer als der Ton der Artikel im Politikteil der Zeitung. Obwohl sich die Redaktion der "Kronen Zeitung" schon eines recht negativen Schreibstils bedient, setzen die Leserbriefschreibenden immer noch eines drauf. Wenn es direkt um den Wahlkampf an sich geht, scheinen sie besonders unzufrieden zu sein. Leserbriefe dienen den Bürgerinnen und Bürgern also als Ventil, um sich Luft zu machen. Doch auch in das strategische Konzept von Zeitungen passt dies gut. Denn extreme Positionen wecken Interesse bei der Leserschaft und tragen zuweilen sogar zu deren Unterhaltung bei. Beim Thema EU nutzte die Zeitung die Leserbriefseite zur Verstärkung ihrer eigenen EU-kritischen Position: immerhin waren die "Leserbriefe zum EU-Theater" über viele Jahre eine beliebte Unterkategorie.

Die "Kronen Zeitung" erreicht jeden Tag mehr als ein Drittel der österreichischen Bevölkerung. Durch die Vielzahl an Themen und den gegebenen Raum für kritische, zumeist negative Stimmen der Bürgerinnen und Bürger, die an anderer Stelle kaum oder keinen Platz haben, präsentieren die Leserbriefe einen Querschnitt der Meinungen und Ansichten der "Krone"-Leserschaft in Wahlkampfzeiten. Dies kann als offene Plattform zur freien Meinungsäußerung gewertet werden – gleichzeitig ist es für die "Kronen Zeitung" natürlich auch ein strategisches Instrument, sich breitere Leserschichten zu erschließen und ihre Reichweite zu steigern. (Lore Hayek, Manuel Mayrl, Uta Rußmann, 12.6.2020)