Sitzt zwar am Boden, ist aber nicht dort zerstört: Norah Jones bemüht sich auf ihrem neuen Album um Positivismus.

Foto: Blue Note / Universal

Wahrscheinlich wird auch Norah Jones irgendwann wütend, wer nicht? Aber für ihre Kunst verkneift sie sich dieses Gefühl. Nennen wir es Imagepflege. Oder Stil. Oder Charakter. Sich eruptive Gefühle zu sparen bedeutet nicht, dass sie die nicht verspürt. In aktuellen Interviews mit der 41-jährigen Singer-Songwriterin ist sehr wohl Unmut zu vernehmen. Man muss nicht fürchten, dass sie Donald Trump gewählt hat oder ihn wählen wird.

Wer hofft, ihr neuer bester Freund in den sozialen Medien zu werden, wird eine gewisse Frustrationstoleranz brauchen. Zwar ist sie dort anzutreffen, doch mehr als ein Marketingtool ist es für sie nicht. Es überwiegt das Gefühl, dass diese Netzwerke die Welt nicht besser machen.

Die Wucht der Schlaftablette

Aus einer so oft zur gespaltenen Gesellschaft ausgerufenen Nation veröffentlicht sie am Freitag ihr neues Album. Es heißt Pick Me Up Off The Floor; das klingt etwas niedergeschlagen, doch dem will sie sich nicht ergeben. Es wird niemanden überraschen, dass die Atmosphäre des Werks intim wirkt. Schließlich ist die New Yorkerin und Retterin des Labels Blue Note mit einer Musik berühmt geworden, die despektierlich Candlelight-Dinner-Soundtrack genannt wurde. Ihr auf Zuckerwatte gebettetes Debüt Come Away With Me schlug 2002 wie eine Überdosis Schlaftabletten ein – und verkaufte sich seitdem an die 30 Millionen Mal.

Warm und hölzern

Mit Jazz hatte das Album wenig zu tun, Jones orientierte sich in ihren verträumten Etüden eher an Songwritern wie Willie Nelson oder Townes Van Zandt, ohne diesen nahezukommen. Doch ihr in traditionellem Handwerk hergestellter Sound traf einen Zeitgeist, bediente ein Verlangen nach warmer Musik aus schönen hölzernen Instrumenten.

Seitdem hat sie nicht viel falsch gemacht, ihre Alben verkaufen sich zu einem gewissen Teil automatisch, und sie ist der nette Superstar von nebenan, der auf der Straße nicht oft erkannt wird. Trotz insgesamt 50 Millionen verkaufter Tonträger und Milliarden von Streams.

Oje, ein Album

Die Mutter zweier Kinder wollte zudem gerade gar kein Album produzieren, nicht schon wieder die in die Tretmühle aus Promotion und Tour geraten, dafür sind die Kinder zu klein, zu wichtig sowieso. Dennoch. Aus nebenbei eingespielten Sessions mit Freunden und Geistesverwandten sowie zu Hause am Klavier entworfenen Songs ist genau das entstanden, was sie eigentlich nicht wollte: ein neues Album.

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Das besitzt so viel Jazz-Vibe, dass nicht einmal die diesbezügliche Polizei ihre Herztropfen braucht. Jones meditiert am Klavier hübsche Kleinode oder versteigt sich in einem Song wie Say No More nachgerade in das jazzige Genre. Nicht dass sie diese Rechtfertigung notwendig hätte, es schadet aber nicht und ist das vielleicht beste dieser elf Stücke.

Gelungene Übung

Ein anderes, I’m Alive, hat sie gemeinsam mit Jeff Tweedy von der Band Wilco aufgenommen. Hausmarke: gebeserltes Schlagzeug, folkig, hübsch und vorsichtig optimistisch. Ihr Anliegen sei es gewesen, sagt Jones, sich in dieser seltsamen Zeit nicht den dunklen Seiten zu ergeben, sondern die guten Seiten zu betonen. Die Übung ist gelungen. (Karl Fluch, 9.6.2020)