Das zeitliche Zusammenfallen dreier Krisen – der schlimmsten Pandemie seit einem Jahrhundert mit 110.000 Toten, der Wirtschaftsdepression mit 40 Millionen Arbeitslosen und der Unruhen in 50 Städten nach der Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten – macht die Führungsmacht des Westens zum Pulverfass. Der US-Autor und Journalist George Packer sieht in einem "NZZ"-Interview bereits Anzeichen eines gescheiterten Staates. Er ist besorgt, ob die Präsidentschaftswahlen im November tatsächlich stattfinden können und ob Präsident Donald Trump bei einer Wahlniederlage zurücktreten würde.

In den USA wird weiter protestiert.
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Andere Beobachter weisen darauf hin, dass Trump eher ein Symptom als eine Ursache der vielschichtigen und teilweise seit Jahrzehnten bestehenden Probleme sei. Es stimmt zwar, dass eine breite schwarze Mittelschicht entstanden ist und dass die Wahl und Wiederwahl des Afroamerikaners Barack Obama als eine hoffnungsvolle Wende betrachtet wurde. Trotzdem war im letzten Monat nur die Hälfte der schwarzen Erwachsenen beschäftigt. Schwarze stellen 13 Prozent der amerikanischen Bevölkerung, aber 24 Prozent der von der Polizei getöteten Menschen und 38 Prozent aller Gefängnisinsassen in den USA sind Schwarze. Ihr Anteil an den Covid-19-Opfern ist mindestens doppelt so hoch wie jener an der Gesamtbevölkerung. Im Jahr 2016 verfügte eine durchschnittliche schwarze Familie über einen Zehntel des Vermögens einer weißen Familie und über ein um 40 Prozent geringeres Einkommen.

Nationale Katastrophe

Der "New York Times"-Kolumnist und Pulitzer-Preisträger Bret Stephens schrieb vorgestern trotz dieser Tatsachen wörtlich: "Wir sind inmitten einer beispiellosen nationalen Katastrophe." Der Grund sei "nicht die Pandemie oder die Wirtschaftskrise oder die mörderischen Polizisten oder die geplünderten Städte oder die Rassendiskriminierung". All das habe man schon erlebt. Die Tatsache aber, dass eine Figur wie Trump die Nation führe, bedeutet laut Stephens die eigentliche nationale Katastrophe. Der 2018 zurückgetretene Verteidigungsminister James Mattis warnte, Trump versuche nicht einmal den Anschein zu erwecken, als wolle er die Amerikaner versöhnen. Er habe seine Macht missbraucht, als er den Platz vor dem Weißen Haus gewaltsam von Demonstranten räumen ließ. Er gefährde die Bande zwischen den Streitkräften und der Gesellschaft, wenn er Soldaten gegen Demonstranten in Stellung bringe. Die Unruhen im Land beschrieb Mattis als eine "Folge von drei Jahren ohne mündige Führung".

Ernstzunehmende Beobachter sind der Überzeugung, dass Trump nicht nur gezielt Lügen einsetze (laut der "Washington Post" 20.000 "falsche oder irreführende Behauptungen" seit Amtsantritt), sondern dass er unfähig sei, die Wahrheit zu sagen. Trump möchte laut Packer wie ein autoritärer Machthaber regieren. Viele der manchmal dutzenden Nachrichten pro Tag, die Trump seinen mehr als 80 Millionen Twitter-Parteigängern zukommen lässt, gießen Öl ins Feuer und mobilisieren mit aggressiver "Recht und Ordnung"-Rhetorik seine Anhänger.

Der Demokrat Joe Biden ist kein besonders beeindruckender Kandidat. Aber er bietet die einzige Chance zur Heilung einer gespaltenen Nation. (Paul Lendvai, 8.6.2020)