Für viele Grüne, Funktionäre wie Sympathisanten, aber auch Abgeordnete, war es wie ein Befreiungsschlag, als sich ihre Spitzenvertreter gegen die ÖVP-Umarmung wehrten – endlich, hieß es. Parteichef und Vizekanzler Werner Kogler hält beim restriktiven und als unsolidarisch empfundenen EU-Sparkurs von Kanzler Sebastian Kurz dagegen, unterstützt wird er dabei von Klubchefin Sigrid Maurer und dem Abgeordneten Michel Reimon. Dass Kurz bei einem so wichtigen Bereich wie dem EU-Budget ohne Rückfrage beim Koalitionspartner agierte, empfand Kogler als massiven Verstoß gegen die Spielregeln und soll das bei Kurz auch so klargemacht haben.

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Fast zwei Monate lang regierten Kurz und sein Vize Kogler im zur WG umfunktionierten Kanzleramt – doch mit Ende der Corona-Krise hat es sich nun ausgekuschelt: Die Grünen wollen an Profil zulegen.
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Nahezu zeitgleich demontierte Justizministerin Alma Zadić in ihrem Ressort Sektionschef Christian Pilnacek und kappte so den Einfluss der ÖVP in ihrem Ressort. Und Infrastrukturministerin Leonore Gewessler holte die SPÖ-Frau Brigitte Ederer wieder in den Aufsichtsrat der ÖBB, ebenfalls ohne Rücksprache mit der ÖVP – auch darüber war die Kanzlerpartei arg erzürnt. Sie wird sich an solche grüne Einzelgänge aber wohl gewöhnen müssen.

ÖVP auf 180

Vorerst setzte es zwei türkise Retourkutschen: Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) lud Experten zum runden Tisch für das Transparenzpaket, die Kernagenda der Grünen schlechthin – ohne jedoch auch nur einen Vertreter des Juniorpartners einzuladen. Ebenfalls auflaufen ließ ÖVP-Innenminister Karl Nehammer Justizministerin Zadić mit dem Ibiza-Video – sie musste aus den Medien erfahren, dass die Soko Tape schon seit Wochen in Besitz der Aufzeichnungen war. Diese Sticheleien, heißt es, seien allen voran gegen Zadić gerichtet, die als polyglotte Ministerin mit Migrationshintergrund quasi das Gegenbild zur türkisen Regierungsriege darstelle.

Doch Abgrenzung heißt die neue Devise bei den Grünen. "Wir verkaufen uns so schlecht, aber das wird sich bald ändern", prophezeit eine Grüne. In manchen Bereichen habe man sich ohnedies ganz gut durchgesetzt. So habe man etwa dafür gesorgt, dass es auf dem Höhepunkt der Corona-Krise statt Ausgangsverbote nur Ausgangsbeschränkungen setzte, dass bei der Rettung der AUA Umweltauflagen zu berücksichtigen sind oder dass nur Firmen Hilfsgelder bekommen, die kein Vermögen mithilfe steuerschonender Konstruktionen im Ausland geparkt haben – also quasi eine Art Anti-Panama-Bestimmung gegen Briefkastenfirmen. Nachdem Kanzler Kurz am Wochenende eine Senkung der Mehrwertsteuer für die Gastronomie in Aussicht gestellt hat, bestehen die Grünen nun darauf, dass es derartige Maßnahmen auch für den Kunst- und Kulturbereich geben müsse.

Ohne Rücksicht auf Verluste

Allzu lange habe man hingenommen, dass die ÖVP ihr Programm ohne Rücksicht auf den Juniorpartner fährt. Im Parlament habe man sich über die Schmerzgrenze hinaus verbiegen müssen, als man etwa gegen die Beflaggung der Ministerien mit Regenbogenfahnen stimmte, gegen das Frauenschutzpaket war, der geforderten Aufnahme von Flüchtlingskindern nicht zustimmte, einen Abschiebestopp ablehnte und vieles mehr. Die Opposition kostete das aus, brachte Anträge mit grünen Kernanliegen ein – und die Grünen mussten aus Koalitionsdisziplin dagegenstimmen. Eine schmerzhafte Erfahrung für die Abgeordneten.

Die Grünen halten dagegen, lautet jetzt die neue Parole. Die Rückmeldungen auf die ersten Befreiungsversuche waren so positiv, dass sich viele Abgeordnete in ihrem Aufbegehren bestärkt sehen. Vergangene Woche konnte Klubchefin Maurer nur mit Mühe einen internen Aufstand gegen Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) verhindern, als dieser im Budgetentwurf sechs Nullen vergessen hatte.

Treffpunkt Ballhausplatz

Jetzt gilt es für die Grünen, endlich Infrastrukturministerin Gewessler in Stellung zu bringen, die eine Ökologisierung der Investitionen voranbringen soll. Gelegenheit, sich zu bewähren und die Standpunkte durchzukämpfen, gibt es nächste Woche bei einer Arbeitsklausur der Regierung. Ort dieser Veranstaltung ist allerdings das türkise Kanzleramt. (Michael Völker, Nina Weißensteiner, 9.6.2020)