Im Gastkommentar widmet sich Gunther Tichy, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und -politik, den Tücken des Koste-es-was-es-wolle-Prinzips.

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Kanzler Sebastian Kurz und Vize Werner Kogler postulierten zu Beginn der Corona-Krise: Koste es, was es wolle.
Foto: Helmut Fohringer/Pool via REUTERS

Die Corona-Krise hat die Missionare wieder auf den Plan gerufen: Überwachungsfetischisten und Freiheitsapostel, Globalisierungsfeinde und -verherrlicher, Autarkisten und Freihändler, Integrationsgegner und -vertiefer, Verschuldungswarner und Super-Keynesianer. In der Zukunft, so habe die Krise gelehrt, müsse alles anders werden.

Realität und aktuelle Politik kümmern sich allerdings nicht um die lange Frist und noch weniger um die Ideologien der Missionare; die Politik betreibt – weltweit – Tagespolitik im Sinn einer Orientierung an den scheinbar unmittelbaren Tageserfordernissen. Die Länder haben sich voneinander abgeschottet, bloß die Tourismusindustrie will die Grenzbalken für zureisende Touristen öffnen; Globalisierung und Integration haben an Glanz verloren. Sogar die selbsternannten Integrationsapostel Deutschland und Frankreich haben unter Missachtung der Regeln des europäischen Binnenmarktes Barrieren für den Export von Atemmasken und medizinischen Artikeln errichtet; die Schuldengegner sind Super-Keynesianer geworden: Was sollen die vereinbarten Budgetregeln, Hauptsache man gibt Geld aus, um die Kaufkraft zu stärken, egal wofür – und "koste es, was es wolle".

Intelligente Globalisierung

Nun steht außer Zweifel, dass manche Maßnahmen der Globalisierungs- wie der Integrationspolitik überzogen waren, doch überzogene Aktivitäten werden nicht besser, wenn man sie plötzlich in ihr Gegenteil verkehrt. Die Gegenbewegung gegen die Exzesse der Globalisierung hat schon vor der Corona-Krise eingesetzt. Verunsicherung und protektionistische Tendenzen der Regierungen haben die Wertschöpfungsketten riskanter werden lassen; die Firmen begannen, die Risiken des Runs auf minimalste Kostenunterschiede, überlanger Wertschöpfungsketten und des "Single Sourcings" zu erkennen.

Die Gegenbewegung der Länder tendiert derzeit noch in Richtung Protektionismus. Aber auch die EU und die Länder müssen etwas gegen ihr "Single Sourcing" tun, ihr Ausgeliefertsein an Monopolisten, etwa bei Pharmarohstoffen, Medikamenten, Plattformen oder sozialen Netzwerken. Deglobalisierung wäre jedoch für Firmen wie für Länder fatal, sie würden dabei auf die Nutzung von Spezialisierungsvorteilen verzichten. Subtilere und differenziertere Lösungen sind vorzuziehen: Auflagen, Regulierungen, Wettbewerbspolitik, aber auch staatliche Beschaffungspolitik sind denkbare Instrumente. Statt wie naiverweise vorgeschlagen etwa Schutzkleidung und Masken für Pandemien oder gar Medikamente teuer und ohne Nutzung von Größenvorteilen selbst zu erzeugen, wäre es sinnvoll, im Rahmen der Seuchenvorsorge entsprechende Lager zu halten. Der Marktmacht der staatlichen Krankenversicherungen müsste es gelingen, Verträge mit entsprechender Liefersicherheit zu erzwingen.

Integrationsvorteile erhalten

Nicht bloß die Globalisierung, auch die Integration hat in der Corona-Krise Schaden gelitten, billiger Nationalismus hat fröhliche Urständ gefeiert. Jetzt von einer weiteren Vertiefung der Integration zu reden ist kontraproduktiv und nährt bloß Spaltungstendenzen. Eurobonds wären für die Schaffung eines europäischen Kapitalmarkts wichtig, sie jedoch derzeit als Instrument der inner-europäischen Verteilungspolitik zu propagieren muss angesichts der erheblichen Meinungsdifferenzen der Politiker wie der Spaltung der Bevölkerung als integrationsfeindlich eingestuft werden.

Die Struktur der EU als Integration unter Ungleichen setzt zwar Elemente einer Umverteilung voraus; via monetäre Transfers wird das jedoch auf absehbare Zeit kaum durchsetzbar sein. Es wäre allerdings zu diskutieren, wie weit monetäre Transfers angesichts der politischen Instabilität mancher der potenziellen Empfängerländer die optimale Lösung wären; andererseits muss aber auch diskutiert werden, wie weit die politische Instabilität dieser Länder ohne Transfers weiter zunähme. Insoweit wäre als Alternative zu monetären Transfers ein stärkerer Druck auf den Abbau der exzessiven Exportüberschüsse einzelner Länder zu überlegen.

Überschießendes Handeln

So erfreulich der Ideologiewechsel von mechanischen Budget- und Schuldengrenzen zu flexibler Fiskalpolitik und die raschen Stützungsmaßnahmen zur Vermeidung einer schweren Rezession auch sind, eine Tendenz zum Überschießen ist nicht zu übersehen. Die Ankündigung, den Umfang der Entschädigungspakete anzupassen, sollte das notwendig sein, "koste es, was es wolle", musste Erwartungen des völligen Ersatzes jedweden Schadens wecken und einer gewissen Selbstbedienungsmentalität Vorschub leisten.

Nun ist Hayeks Vorstellung einer "Reinigungskraft der Krisen" sicherlich übertrieben; sie ist aber auch nicht ganz falsch. Es ist problematisch, Unternehmen durch großzügige Unterstützungszahlungen am Leben zu erhalten, die schon vor der Krise mit dem Überleben kämpften, und das Koste-es-was-es-wolle ignoriert die daraus entstehenden längerfristigen Probleme. Die Budgetdefizite müssen früher oder später wieder abgebaut werden, und die Angst vor den Schulden – gerechtfertigt oder ungerechtfertigt – wird wieder aufleben; dann könnte wieder eine problematische Phase der Austeritätspolitik folgen.

Nicht des Ersatzes aller denkbaren Ausfälle bedarf es, sondern der Unterstützungskredite in sorgfältig überprüften Fällen. Unternehmen, die so ertragsschwach sind, dass sie keine Reserven bilden konnten, werden die kommende Rezession wohl kaum überleben. Es gilt, die knappen – und früher oder später durch Besteuerung aufgebrachten – Mittel sorgfältig für zukunftsorientierte Unternehmen und Zukunftsinvestitionen einzusetzen. Die Überwindung der Folgen der Corona-Krise und der durch sie ausgelösten schweren Rezession wird nicht bloß die Unternehmen, sondern auch die Staaten vor schwierige Probleme stellen. Die Sinnhaftigkeit der jeweiligen Maßnahmen wird darüber entscheiden, wer gestärkt und wer geschwächt aus der Krise hervorgeht. (Gunther Tichy, 9.6.2020)