Foto: St Martin's Press

Der fünfte Teil von Martha Wells' beliebter Serie – der erste in voller Romanlänge – beginnt wieder mit einem typischen Murderbot-Dilemma: Als Geleitschutz eines Wissenschafterteams, das von Piraten bedroht wird, würde Murderbot den Angreifern gerne mit seinen Flugdrohnen den Schädel einschlagen, um möglichst schnell wieder fernsehen gehen zu können. Aber ach, dann würde die Klientin ein trauriges Gesicht machen, und das schlüge einem dann doch irgendwie aufs Kunstherz. Ganz zu schweigen davon, dass dann einmal mehr die lästige Diskussion losginge, dass man Menschen nicht pauschal als Potential Targets bezeichnen sollte. Man hat's nicht leicht als Murderbot!

M wie Murderbot

Für diejenigen, die es noch nicht kennen: Ich-Erzähler Murderbot ist eine sogenannte SecUnit, die für den Kampf konstruiert wurde. Es handelt sich – auch wenn Wells dieses Wort nicht verwendet – um einen Cyborg aus organischem Gewebe, Metall und Elektronik, der mit ein bisschen Schminke (und viiielen Verhaltenstipps) als Mensch durchgehen könnte. Einerseits waffenstarrend, andererseits mit extrem hoher Prozessorgeschwindigkeit und der Möglichkeit zur Vernetzung ausgestattet, kämpft Murderbot stets an der Hard- und Softwarefront zugleich. Wells kann dadurch geschickt klassische Military SF mit Cyberpunk verbinden und daraus eine schlagkräftige Actionmischung zubereiten.

... was freilich nur die halbe Wahrheit ist. Denn da wäre auch noch Murderbots Wesen, ein Aspekt, der Wells' Erzählungen mindestens genauso prägt wie das Kampfgetümmel. Als seelenlose Kampfmaschine entworfen, hat Murderbot sein Steuerungsmodul gehackt und ist dadurch zu einem selbstbestimmten Wesen geworden. Aber was mit dieser Freiheit anfangen? An dieser Frage kaut das misanthropisch veranlagte Kunstwesen nun schon vier Novellen und einen Roman lang herum – zumindest wenn es sich nicht mit Binge-watching der neusten galaktischen Seifenopern ablenken kann.

B wie Bud(dy)

Murderbots Charakter steckt voller Widersprüche. Einerseits stets auf seine Aufgabe fokussiert und pragmatisch bis zum Tod (anderer), gleichzeitig aber unverkennbar zum Selbstmitleid neigend, auch wenn das gerne mit galligem Humor überspielt wird. In der Regel richtet sich dieser Humor gegen Menschen, die aufgrund ihrer speziestypischen Ungeschicklichkeit zur Gefahr für sich selbst und andere werden – doch zugleich spricht Murderbot immer wieder von my humans. Das klingt doch fast schon liebevoll, aber: "No hugging," I warned her. It was in our contract.

Die bis heute anhaltende Popularität, zu der Murderbot bereits mit der ersten Novelle im Jahr 2017 gefunden hat, lässt sich im Wesentlichen also auf die alte Erfolgsformel "Harte Schale, weicher Kern" zurückführen. Man könnte auch vom Bud-Spencer-Effekt sprechen. Verniedlichen sollte man Murderbot allerdings auch nicht: Wenn hier einem Gegner die Waffe aus der Hand gerissen wird, gehen ein paar Finger gleich mit ab. Das hätte es bei Bud nicht gegeben.

Was diesmal geschieht

Eines vorab: Für Neueinsteiger ist "Network Effect" nicht geeignet. Der Roman schließt wie die zweite Staffel einer TV-Serie nahtlos an die früheren Folgen an. Rückblicke auf vergangene Ereignisse werden so kurz angerissen, dass man sie ohne Vorkenntnis nicht versteht, zudem kehren alle möglichen Protagonisten aus den früheren Bänden zurück. Darunter etwa die Akademikerin Dr. Mensah, die wegen Murderbots unsicherem legalen Status offiziell als dessen "Guardian" auftritt. Oder – und das wird Fans besonders freuen – ART, eine mit perfidem Humor ausgestattete Künstliche Intelligenz, zu der Murderbot tatsächlich das Wort "Freund" über die Lippen kommen könnte.

Die eingangs erwähnte wissenschaftliche Expedition wird von Dr. Mensahs Tochter Amena geleitet, die damit zu Murderbots besonderem Schützling wird. Was auch dringend nötig ist, denn bei der Rückkehr zu ihrem Heimatplaneten schlagen schon die nächsten Angreifer zu: Seltsam grauhäutige Menschen entführen die Crew durch ein Wurmloch zu einem vergessenen Kolonialplaneten. Wo potenziell gefährliche Alien-Technologie auf sie wartet und Murderbot sich einmal mehr genötigt sieht, einzuschreiten. I was going to have to do this the hard way, but what else is new.

Was diesmal neu ist (und was nicht)

Dem Wechsel vom Novellen- zum Romanformat hat Martha Wells Rechnung getragen und ein wenig das Tempo rausgenommen. Was auch notwendig war, denn würde es die ganze Zeit so weitergehen wie in den Novellen und im ersten Drittel dieses Romans und wir nur von einer Kampfsituation zur nächsten switchen, dann würde es irgendwann betäubend. Zum ersten Mal baut Wells auch – zaghaft, aber doch – einen Perspektivenwechsel ein, ebenfalls ein Zugeständnis an die längere Erzählform. Alles in allem ist sie aber auf Nummer sicher gegangen und hat ihr bewährtes Erzählmodell kaum abgewandelt.

Auf längere Sicht wird sie wohl etwas mehr wagen müssen, denn selbst Erfolgsformeln nutzen sich irgendwann ab. "Network Effect" bietet fraglos wieder tolle Unterhaltung. Doch das Handlungsmuster wiederholt sich, zudem fallen mit jedem neuen Teil die Dinge immer stärker auf, die den Murderbot-Erzählungen fehlen. Zum Beispiel die Optik. Während sich viele Autoren in ermüdenden Beschreibungen des Settings ergehen, sitzt Wells am anderen Ende der Skala und reduziert alles in der Erzählung Vorkommende auf seine Funktionalität. Die Murderbot-Geschichten sind optisch karg, es fällt mitunter schwer, sich ein Bild von dieser eigentlich sehr spannend entworfenen Zukunftswelt zu machen.

Auch Murderbots persönliche Entwicklung ist seit Novelle 1 kaum vorangeschritten. Da gibt es allerdings eine gute Nachricht: Ein Einschnitt in Murderbots "Lebens"umständen, wie ich ihn eigentlich schon am Ende der vierten Novelle erwartet hätte, beendet "Network Effect" und schließt damit den ersten großen Story-arc doch noch ab. Den sechsten Band, der für Frühling 2021 angekündigt ist, werde ich also doch wieder lesen – und dann entscheiden, ob mir die Weiterentwicklung ausreicht. Und diejenigen, die Murderbot bzw. "Killerbot" lieber auf Deutsch lesen wollen, werden auch nicht allzu lange warten müssen: "Der Netzwerkeffekt" erscheint im kommenden Jänner bei Heyne.