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Seit einem Jahr wird in Hongkong demonstriert.

Foto: REUTERS/Tyrone Siu

Die Pekinger Corona-Geheimniskrämerei und das neue Sicherheitsgesetz in Hongkong beschleunigen den Sinneswandel in der britischen China-Politik. Warben Londoner Politiker noch vor wenigen Jahren demütig um fernöstliche Investitionen in Infrastruktur und neue Atomkraftwerke auf der Insel, bietet der konservative Premierminister Boris Johnson jetzt den Bürgern der früheren Kolonie Hongkong großzügiges Aufenthaltsrecht mit der Option auf britische Staatsbürgerschaft an. Führende Parlamentarier fordern eine härtere Gangart gegenüber dem kommunistischen Regime.

Erst im Februar hatte London gegen energischen Protest aus Washington dem Telekom-Giganten Huawei grünes Licht für dessen Beteiligung am G5-Mobilfunknetz auf der Insel gegeben. Für diese Entscheidung handelte sich Johnson die erste ernste Rebellion seiner Tory-Fraktion in dieser Legislaturperiode ein. Die Kritiker befürchten eine unzureichende Abschottung des Unternehmens gegenüber Einflussmöglichkeiten der autoritären Pekinger Regierung; dadurch werde chinesische Spionage erleichtert.

Radikaler Wandel

Inzwischen habe sich die Haltung Johnsons und seines engsten Teams gegenüber Peking radikal gewandelt, berichten britische Medien. "Chinas Vorgehen hat die Leute in der Downing Street wirklich alarmiert", zitiert "The Times" einen Insider. Außenminister Dominic Raab versprach schon im April, man werde den Machthabern "schwierige Fragen" zur anfänglichen Verschleierung des Corona-Ausbruchs stellen. London mochte sich zwar der australischen Forderung nach einer internationalen Untersuchung des Corona-Ausbruchs in Wuhan nicht anschließen, zeigte aber öffentlich Sympathie für das Anliegen.

Die Pekinger Muskelspiele in Hongkong haben bei führenden Londoner Außenpolitikern für Entsetzen gesorgt. Das Abkommen über die friedliche Beendigung der britischen Kolonialzeit 1997 sah für das florierende Wirtschaftszentrum eine dauerhafte Autonomie ("ein Land, zwei Systeme") vor. Diese werde durch das Sicherheitsgesetz "auf dramatische Weise untergraben", argumentiert Johnson und bezichtigt Peking indirekt eines Verstoßes gegen den gültigen Vertrag. Sollte das Gesetz fortbestehen, "hätten wir keine andere Wahl, als unsere tiefverwurzelte Freundschaft mit den Menschen in Hongkong hochzuhalten".

Konkret spricht die Regierung von einer beispiellosen Einladung zur Einwanderung. Rund 350.000 Einwohner Hongkongs verfügen über einen britische Übersee-Pass, weitere 2,5 Millionen könnten ihn beantragen. Das Papier berechtigt bisher zu Visa-freiem Aufenthalt auf der Insel für bis zu sechs Monaten. Johnson spricht nun von einem erneuerbaren Aufenthaltsrecht für zwölf Monate samt Arbeitsberechtigung, wodurch der Weg zu vollständiger Staatsbürgerschaft frei würde.

"Himmelschreiende Geringschätzung"

Dass sich das Meinungsklima verändert, zeigt die Empörung über einen Kotau der Großbanken HSBC und Standard Chartered vor den Machthabern in Hongkong. Beide Firmen hatten das neue Sicherheitsgesetz öffentlich befürwortet. Dadurch habe HSBC "himmelschreiende Geringschätzung" der Menschen in Hongkong demonstriert, wettert Labours außenpolitische Sprecherin Lisa Nandy. Die 1865 gegründete Hongkong and Shanghai Banking Corporation zählt mit rund acht Millionen Kunden in Großbritannien zu den wichtigsten Finanzunternehmen der City of London, macht ihre Gewinne aber vor allem in Asien.

Von "kulturellem Genozid" spricht Nandys Labour-Kollegin im Oberhaus, Baronin Helena Kennedy, mit Blick auf die Xinjiang-Region, wo mehr als eine Million muslimischer Uiguren in sogenannten Umerziehungslagern sitzen. "Dort haben wir es mit der derzeit schlimmsten Menschenrechtskrise weltweit zu tun", glaubt die renommierte Anwältin.

Wie sehr die Bedenken in Bezug auf China hergebrachte politische Frontlinien durchkreuzen, verdeutlichte vergangene Woche, am Jahrestag des Tiananmen-Massakers, die Gründung der neuen globalen China-Parlamentarierallianz IPAC. Unter Leitung des früheren Tory-Parteichefs Iain Duncan Smith hat sich die Gruppierung eine robustere Vorgehensweise demokratischer Staaten gegen die kommunistische Diktatur zum Ziel gesetzt. (Sebastian Borger aus London, 9.6.2020)