Makaberes Totenkopf-Ballett: In einer Serie von Aquarellen verwebt die Französin Annette Messager die Erfahrungen aus einer Schädel-OP mit den Bedrohungen durch das Coronavirus.

Foto: C. of the artist u. Marian Goodman Gallery

Eine der bizarrsten Ausgeburten der Corona-Krise war die Kakofonie aus Rasanz und Entschleunigung: Während das öffentliche und soziale Leben plötzlich nahezu stillstand, setzte ein immenser medialer Geschwindigkeitsrausch ein. Angesichts der Flut an Live-Tickern blieb nicht einmal die Zeit, sich zu fragen, was eigentlich "live" daran sein soll, wenn in Akkordarbeit Toten- und Infektionszahlen ins Netz geklopft werden. Die Toten waren da ja schon längst tot und die Infizierten infiziert.

Im Kunsthaus Bregenz fragte man sich derweil, was denn die Kunst so zu Corona "tickert". Es zeigt nun als weit und breit erste Institution eine Ausstellung zur Virus-Krise. Geschwindigkeit allein ist freilich auch in diesem Fall nicht alles. Wie zum Beweis entführt Helen Cammock, britische Turner-Preisträgerin von 2019, in They Call it Idlewild auf einen filmischen Streifzug durch englische Landschaften, Hinterhöfe und das eigene Quarantäneumfeld. Doch die Trägheit erweist sich als trügerisch. Es schleichen sich in der aus Zitaten, Gedanken und Gesängen lose gestrickten Erzählung Fragen über Gerechtigkeit, (koloniale) Ausbeutung, soziale Lebensumstände ein. Sie könnten in der Nachwirkung der Pandemie aktueller werden denn je.

Krisenkommentare

Spontaner, direkter und damit auch eine Spur unfertiger kommen die Arbeiten von Ania Soliman daher, die aus der Pariser Quarantäne heraus ihren Instagram-Account mit Zeichnungen und sozialpolitisch gefärbten Kommentaren zur Krise fütterte. Im Angesicht der Pandemie wurden "zuerst die Virologen befragt, dann kamen die Psychologen, schließlich die Philosophen", sagt Thomas D. Trummer. Ihn selbst hätten auch etliche Nachrichten von Künstlerinnen und Künstlern erreicht, die sich mit den aktuellen Ereignissen beschäftigten, so der Kunsthaus-Direktor.

So entstand die Idee zu einer außerplanmäßigen Sonderschau, die dem prekären Lebensgefühl seit Beginn der Corona-Krise nachspürt. Denn: "Es sind die Wissenschaften, die versuchen, Lösungen anzubieten, aber es sind die Künste, die die Zwangslagen der Krise darstellen." Und als Ort der Gegenwartskunst sei das Kunsthaus Bregenz der probate Ort, um auf eine Situation wie diese aktuell zu reagieren.

Das Ergebnis trägt den Titel Unvergessliche Zeit und bietet eine Riege internationaler Künstler auf, die auf unterschiedliche Weise auf existenzielle Fragen und Erfahrungen wie Isolation, Bedrohung, Freiheit, Vertrauen, demokratische Grundwerte reagieren. Insta-Kunst trifft dabei auf gut Abgehangenes, das sich mitunter auch als Dokument "erschütternder Vorahnung" (Trummer) lesen lässt. In der Tat packen Markus Schinwalds mit Masken und surrealen Prothesen ausgestattete Porträts aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert den mit Mund-Nasen-Schutz bewehrten Betrachter direkt am eigenen Erleben.

Andere Bedrohungen

Wo Schinwald lange vor Corona eher den Schutz des mit seinen Neurosen verwachsenen Individuums vor dem Blick der anderen meinte, drängt sich jetzt, da die Kunst im Krisen-Korsett steckt, das Gegenteil auf. Auf großformatigen Gemälden jüngeren Datums kauern wiederum winzige Menschen in devastierten Landschaften und Szenerien.

Man darf zudem William Kentridge bei der durchaus heiteren Selbstbespiegelung im Atelier beobachten oder beim Betrachten der zum Teil ins Groteske verzerrten Totenschädeln auf den Aquarellen von Annette Messager erahnen, dass darin auch noch ganz andere Bedrohungen als Corona lauern.

Kurzum: Man trifft auf Persönliches, Politisches und manches Mal gefühlt auch auf eine Gegenwart, die das Virus schon wieder alt aussehen lässt: Mit Kreide gemalte Körperumrisse unterstellen, dass es sich hier um einen Tatort handelt, es könnten aber auch Schlafende sein, die in Rabih Mroués Chalk Outlines über einen schwarzen Bildschirm flackern. "I thought all lives matter" heißt es an einer Stelle im eingefügten Text, unweigerlich assoziiert man auch den Aufstand gegen Rassismus und Polizeigewalt, der seit dem Tod von George Floyd zur weltweiten Protestbewegung angeschwollen ist.

Schon wahr: Die Schau im Kunsthaus Bregenz ist hochaktuell. Allerdings ist es am Ende auch eine Frage der Perspektive, welcher Gegenwart man hier den Puls gemessen sieht. (Ivona Jelčić, 9.6.2020)