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Ist es ein Wendepunkt? Hat sie den politischen Wandel zur Folge: die brutale Kaltblütigkeit, mit der ein Polizist, der sich seiner Macht sicher war, der darauf vertraute, dass kein Vorgesetzter ihn zur Rechenschaft ziehen würde, dem wehrlos am Boden liegenden George Floyd die Luft zum Atmen nahm? Ist der Schock nachhaltig genug, um ein Land, das zwölf Jahre nach der Wahl seines ersten afroamerikanischen Präsidenten in der Person Donald Trumps das hundertprozentige Kontrastprogramm zu Barack Obama ins Weiße Haus delegierte, erneut die Richtung wechseln zu lassen?

Antworten wird das Votum im November geben, mehr als eine Momentaufnahme ist im Juni nicht möglich. Wer sich an die falschen Prognosen von 2016 erinnert, wird sich hüten, schon jetzt den Abgesang auf den Amtsinhaber anzustimmen. Dennoch, manches lässt darauf schließen, dass Trump, so sehr er wohl auf das eine Drittel der Wählerschaft bauen kann, das mit ihm durch dick und dünn geht, den Draht zur Mitte der Gesellschaft verliert.

Die Augen geöffnet

Umfragen zufolge halten fast zwei Drittel der Amerikaner die Proteste, die Floyds Tod folgten, für legitime Äußerungen berechtigten Unmuts. Ein Präsident, der Demonstranten mit Terroristen vergleicht und Soldaten einzusetzen droht, befindet sich im gedanklichen Konflikt mit der klaren Mehrheit seiner Landsleute.

Das Video aus Minneapolis, der Anblick eines Polizisten, der mit Händen in den Hosentaschen auf dem Hals seines Opfers kniet, hat das weiße Amerika wohl noch mehr schockiert als das schwarze. Afroamerikaner wissen aus leidvoller Erfahrung, wozu Beamte in Uniform fähig sind. Weißen hat es die Augen geöffnet. Bedauern zu äußern und schnell zur Tagesordnung überzugehen, das kam für viele diesmal nicht infrage. Zumindest für den Moment sieht es so aus, als wäre dies die Stunde der Wahrheit – als beschäftigte sich Amerika endlich ernsthaft mit seinem rassistischen Erbe, mit Systemfehlern, mit tief verwurzelter Ungerechtigkeit.

Thematisierung der Ungleichheit

In der Corona-Krise haben schwarze Amerikaner einmal mehr den höchsten Preis bezahlt, wie schon 2008 nach dem Kollaps des Bankhauses Lehman Brothers. Ihre Sterberate ist höher als die von Weißen, die Entlassungswelle trifft sie härter, das Durchschnittsvermögen eines schwarzen Haushalts dürfte nach der Epidemie noch deutlicher unter dem eines weißen liegen, als es vorher schon der Fall war.

Nun wird eine Ungleichheit thematisiert, die ihre Wurzeln in der Sklaverei hat, im Geburtsdefekt einer Republik, deren Verfassung dunkelhäutige Menschen mit drei Fünfteln des Wertes von hellhäutigen taxierte. Gut möglich, dass der Diskurs eine Langzeitwirkung entfaltet – und in den nächsten Monaten auch das Duell ums Weiße Haus bestimmt.

Trump setzt erkennbar darauf, Spannungen anzuheizen, in der Hoffnung, dass ihm eine weiße Mehrheit applaudiert, wenn er verspricht, für Ordnung zu sorgen. Der Mann, der die Vergangenheit nostalgisch verklärt, orientiert sich an Richard Nixon, dem Law-and-Order-Parolen im turbulenten Jahr 1968 den Sprung ins Weiße Haus ermöglichten. Nur: 2020 ist nicht 1968. Die Gesellschaft hat sich verändert, es gab die Obama-Premiere, es gibt eine erfolgreiche schwarze Mittelschicht und zumindest in den größeren Städten etliche Viertel, in denen Weiße und Schwarze ganz selbstverständlich zusammenleben. Donald Trump, so viel sei an Prognose gewagt, könnte sich verrechnen, wenn er auf die Spaltung Amerikas setzt. (Frank Herrmann, 10.6.2020)