Obwohl sie auf Plattformen wie Facebook, auf denen sich insgesamt mehr Nutzer bewegen, eine größere Reichweite hätten, sind manche Gruppierungen lieber auf Telegram unterwegs.

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Wer Xavier Naidoo und dem Fernsehkoch Attila Hildmann dabei zusehen möchte, wie sie absurde Theorien zu einem tiefen Staat, Bill Gates als Corona-Gewinnler und anderen vermeintlichen Verschwörungen verbreiten, nutzt am besten Telegram.

Der Messenger hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr zum Treffpunkt für Gruppierungen entwickelt, die auf anderen Plattformen nicht geduldet werden: beispielsweise die rechtsextremen Identitären, deren Chef Martin Sellner regelmäßig bei Telegram postet. Während der Ausgangsbeschränkungen verbreitete er etwa die Falschinformation, Asylwerber würden trotzdem einreisen. Auch der "Islamische Staat" (IS) nutzte den Messenger, um potenzielle Anhänger zu rekrutieren. Und der Handel mit Drogen und Co hat neben dem Dark Web einen Platz auf der Plattform gefunden.

Das eröffnet die Frage: Warum ist eigentlich ausgerechnet Telegram der bevorzugte Messenger für solche Parallelwelten? Schließlich erreicht man anderswo weitaus mehr Nutzer: So zählt der Konkurrent Whatsapp zwei Milliarden Nutzer, bei Telegram sind es lediglich 400 Millionen. Und wer eine sichere App verwenden möchte, greift für gewöhnlich zum Open-Source-Messenger Signal.

Einer der wohl zentralsten Gründe ist, dass Telegram es erlaubt, eine weitaus höhere Zahl an Nutzern zu erreichen als die Konkurrenz: Bis zu 200.000 Menschen können einer Gruppe beitreten, zusätzlich gibt es Channels, bei denen die Teilnehmerzahl unbegrenzt ist, allerdings nur der Ersteller Nachrichten verfassen kann. Genau diese Option nutzen Naidoo, Sellner, Hildmann und Co, um tausende Menschen zu erreichen. Das Feature macht aus Telegram nicht mehr bloß einen Messenger, sondern ein öffentliches soziales Netzwerk.

Inhalte werden selten gelöscht

Obwohl sie auf Plattformen wie Facebook, auf denen sich insgesamt mehr Nutzer bewegen, eine größere Reichweite hätten, präferieren sie den russischen Dienst: Anders als bei Twitter, Facebook und anderen (teil-)öffentlichen sozialen Netzwerken verzichtet Telegram auf eine Moderation und löscht Inhalte nur selten. Erst nach massivem öffentlichem Druck etwa sperrte der Dienst 2015 und 2016 Konten, die dem "Islamischen Staat" zugeordnet werden konnten.

Zuletzt gab es Anzeichen für etwas striktere Kontrollen. Mitte Juli sperrte Telegram von sich aus zahlreiche Kanäle militanter, rechtsextremer Gruppen wie "Terrorwave" und entzog zahlreichen Nutzern die Rechte, neue Channels anzulegen.

Im Vergleich dazu beschäftigen Facebook und andere Social-Media-Giganten weltweit tausende Content-Moderatoren, die rechtswidrige Inhalte entfernen – wobei selbst diese in der Vergangenheit immer wieder in Kritik geraten sind, da die Teams immer noch zu klein sind und problematische Inhalte stehen blieben.

Messenger und öffentliche Plattform

Telegram versteht sich selbst hingegen eigentlich als Messenger, wie eben etwa Whatsapp – selbst wenn eine Gruppe tausende Nutzer hat. Entsprechend müssen Sellner und Co keine Sperre befürchten, wenn sie problematische Inhalte teilen.

Im Vergleich dazu wurde Fernsehkoch Hildmann im Mai auf Instagram zeitweise gesperrt. Er hatte dort etwa vor Massenimpfungen gewarnt. Sellner wurde im vergangenen Jahr von Youtube blockiert, sein Konto wurde jedoch am nächsten Tag wiederhergestellt. Naidoo verbreitet kaum fragwürdige Behauptungen auf anderen sozialen Medien. Auf Telegram postet er hingegen Beiträge mit offen antisemitischen Inhalten: etwa gegen den Milliardär George Soros, der immer wieder von Rechtsextremen attackiert wird.

Sind Kanäle öffentlich, können sie aber zumindest von Behörden beobachtet werden. So befasst sich ein Referat im Bundeskriminalamt mit frei verfügbaren Quellen im Netz, heißt es auf STANDARD-Anfrage – dazu gehören auch soziale Medien wie eben etwa Telegram. Anders sieht es bei geschlossenen Gruppen aus, die von tausenden Nutzern verfolgt werden können.

Rechtsdurchsetzung erschwert

Für Telegram gilt wie für andere soziale Plattformen die E-Commerce-Richtlinie, wie der Rechtsinformatiker Nikolaus Forgó erläutert. Somit sind sie wohl für ihre Inhalte verantwortlich. Jedoch müssen Behörden das Unternehmen erst verfolgen können: "Telegram ist wohl einigermaßen bemüht, den Unternehmenssitz undurchschaubar zu machen." Der Dienst hat seinen Sitz mehrfach geändert, um einer Rechtsdurchsetzung zu entfliehen. Die Entwickler befänden sich mittlerweile nach Eigenangaben in Dubai.

Hinter der Plattform steckt der russische Unternehmer Pawel Durow, der zuvor Russlands beliebtestes soziales Medium, vk.com, begründete. Nach Druck durch die russische Regierung, die eine stärkere Regulierung der Plattform forcierte, verließ er 2014 das Unternehmen, ging ins Exil und widmet sich seitdem Telegram. In Russland wird der Dienst mittlerweile blockiert, da das Unternehmen sich weigerte, private Chats für die russische Regierung zu entschlüsseln.

Nicht sicher

Telegram zieht mit seiner laxen Umsetzung von Regeln beispielsweise auch Dissidenten an: Im Iran spielt der Messenger, der dort von 50 Millionen Menschen eingesetzt wird, eine zentrale Rolle für Regierungsgegner. Oppositionelle nutzten diese in der Vergangenheit mehrfach, um Demonstrationen zu organisieren. Das war der iranischen Regierung ein so großer Dorn im Auge, dass der Messenger immer wieder blockiert wurde. Nutzer beharren aber weiter auf der Verwendung – und nutzen dafür Services wie VPNs, um Sperren zu umgehen.

Dabei ist der Dienst in der Vergangenheit aber auch aufgrund von Sicherheitsbedenken in Verruf geraten: So gibt es zwar "geheime Chats", die verschlüsselt sind, im Normalfall werden Nachrichten aber auf Servern in der Cloud gespeichert. Der NSA-Whistleblower Edward Snowden sprach sich daher gegen den Dienst aus, da Nutzer auf die Betreiber angewiesen seien. (Muzayen Al-Youssef, 23.7.2020)